Grenzfall (German Edition)
Georgel wohnt bei seiner Mutter, eine eigene Wohnung ist zu teuer.
»Keine Ahnung.« Er macht sein Fenster auf. »Als Jugendlicher wollte ich mit dem ganzen Scheiß, wo gehör ich dazu und so, nichts zu tun haben. Ich war Punk. Nach der Öffnung der Grenzen bin ich ein paar Jahre durch Europa getrampt. Hab eine ganze Weile in einem besetzten Haus in Berlin gewohnt.« Er steckt sich eine Zigarette an, hält dem Fahrer auch eine hin, der dankend zugreift. Mattie nimmt ebenfalls eine. Sie hat lange nicht mehr geraucht. Heute ist ihr danach. »Dann ist mein Vater gestorben, ein Arbeitsunfall. Ich bin zurückgekommen und hab Deutsch und Geschichte studiert.« Er denkt einen Moment nach. »Es gab diese großartige Zeit direkt nach der Revolution, wo alle auf die Straßen gegangen sind, um zu diskutieren. Manchmal stundenlang. Wildfremde Leute haben sich ihre Lebensgeschichten erzählt. Ich war damals noch ein Kind, aber es gibt Filmmaterial aus der Zeit.«
Mattie sieht aus dem Fenster. Obwohl sie im Zentrum sind, ist es relativ leer, die Leute wirken gehetzt.
»Damals habe ich Geschichte als etwas Bewegliches kennengelernt. Heute sitzen die ehemaligen Securitate-Leute in dicken Villen, und der Rest muss im Ausland dienstleisten, um Geld ranzuschaffen.« Er lacht. »Jedes Jahr nach den Sommerferien zählen wir erst mal die Schüler, um zu gucken, welche Familien in Italien geblieben sind. Und dann, welche Lehrer.«
Der Taxifahrer stellt eine Frage. Georgel antwortet in seiner ruhigen, gelassenen Art. Daraufhin setzt der Mann zu einem Wortschwall an, der nicht enden will.
»Gibt es ein Problem?« Mattie kann den plötzlichen Stimmungswechsel nicht deuten.
»Nein.« Georgel verfällt in düsteres Schweigen.
Mattie hakt nicht nach. Der nachdenkliche Punk-Historiker ist ihr sympathisch. Wenn er nicht sprechen will, dann entweder, weil es ihm unangenehm ist, oder weil es nichts zu sagen gibt.
Das Taxi holpert auf die Brücke über einen Kanal, eher das ausgetrocknete Bett eines Kanals. Dahinter sieht die Stadt anders aus. Der Fahrer drosselt die Geschwindigkeit und kurvt fluchend durch tiefe Schlaglöcher. Kein Asphalt. Dafür werden die Häuser auf Matties Fensterseite immer größer und spektakulärer. Paläste aus Gips. Säulen, Türmchen, falscher Stuck. Geschwungene Freitreppen. Film City fällt ihr ein, die Studiostadt von Bollywood. Die Frauen, die vor den Häusern flanieren, nicht weniger spektakulär. Hier wird die Konkurrenz mit aufwändigen Röcken bis zum Boden und Haaren bis zur Hüfte abgesteckt. Die Männer sehen dagegen aus, als kämen sie alle gerade aus dem Fitnessstudio. Ältere mit Bauch, die Jugend trägt Muskeln pur. Shorts, Muscle-Shirt, Badelatschen. Livius Stil ist hier Gesetz.
Georgel zieht sie ein wenig vom Fenster zurück. »Muss ja nicht jeder sehen, dass wir hier sind«, brummt er. Der Taxifahrer hat seine Litanei wieder aufgenommen. Auch wenn Mattie nichts versteht, ahnt sie, dass er keine Nettigkeiten von sich gibt.
»Habt ihr auch hier gewohnt?«
Georgel sieht sie erstaunt an. »Nein. Mein Vater hat sein Dorf verlassen und ist zur Armee gegangen. Da gibt es kein Zurück.« Er grinst. »Ich war auch noch nie hier.«
Jetzt ist Mattie verwundert. »Warum nicht?«
Er zuckt die Schultern. »Weiß nicht. Gab keinen Grund. Hier gehst du nicht einfach so spazieren.«
Nach einer gefühlten Ewigkeit hält der Wagen. Mattie zahlt den Preis, den Georgel ihr nennt. Sie steigen aus, und das Taxi rumpelt in einer Staubwolke davon. Sie stehen an einer Straßenecke. Das Haus hat einen tiefen Rotton, der ins Rosa geht. Es ist L-förmig, so dass es mit dem schmiedeeisernen Zaun einen weitläufigen Hof einrahmt. Vorne rechts ist eine Art Garage mit einem kleinen Fenster. Daneben steht eine Zementmischmaschine. Offenbar wird bei Familie Voinescu gerade gebaut.
Georgel öffnet das große Tor. Kinder und Hunde stürmen heran. In Sekunden sind sie umringt. Alle schreien und bellen durcheinander.
Dann plötzlich Stille. Von links treten drei muskelbepackte Männer auf. Georgel verbeugt sich, sagt ein paar Worte. Mattie versteht ihren eigenen und Livius Namen. Einer der Männer spricht für alle. Die anderen beiden gucken unfreundlich dazu.
»Das ist Ştefan, der älteste Sohn. Daneben Claudiu, sein Bruder, und Florin, der Mann von Adriana. Ştefan will wissen, was wir wollen.«
Mattie berichtet von Adrianas Verhaftung und dass Liviu sie gebeten hat, nach Turnu Severin zu fahren und die Familie direkt um
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