Grenzfall (German Edition)
weinen. Du klingst nicht mehr wie ein Mädchen, sondern wie eine erwachsene Frau. Und das bist du ja auch. Du hast für unsere Familie gesorgt, während ich weg war. Werde ich dir jemals genug dafür danken können?« Adriana sieht zum Fenster, als könne sie Vater dort draußen finden. Es ist gut, Vater. Dann liest sie weiter. »Im Moment sitze ich an den Bahnschienen, genau an der Grenze zwischen Polen und Deutschland. Ich schreibe in mein Buch. Einige stehen herum und unterhalten sich leise. Andere sitzen einfach auf einem Baumstamm und warten. Ich kann ihre Anspannung spüren, sie alle werden erleichtert sein, wenn sie es sicher auf die andere Seite geschafft haben. Besonders Nicu. Lass mich dir von ihm berichten.«
Die Tür geht auf. Zum ersten Mal hat Adriana die Frau nicht kommen gehört, so vertieft war sie in die Worte des Vaters. Hinter der Frau kommen zwei Polizisten in die Zelle, ein Mann und eine Frau. Die drei wechseln einen schnellen Blick. Hass und Angst.
»Frau Ciurar?«
»Ja.« Sie legt die Seite, die sie gerade liest, vorsichtshalber mit der Schrift nach unten auf den Tisch. Steht auf.
»Wir bringen Sie jetzt mit dem Auto zum Gericht. Sie werden dort dem Haftrichter vorgeführt.«
Sie versteht nicht.
Die Polizistin tritt zu ihr, schon hat sie die Handschellen von ihrem Gürtel gelöst. Adriana versucht, sich dem Griff zu entziehen.
»Fluchtgefahr«, murmelt die Polizistin mit zusammengepressten Lippen. Das Metall legt sich um ihre Handgelenke, sie ist gefangen. Die Prozession setzt sich in Bewegung. Die Wärterin voran, dann Adriana und die Polizistin, hinten der Mann. In der Eingangshalle kommen sie zum Stehen. Ein anderer Polizist erscheint. Sie flüstern. Adriana kann nur einzelne Worte verstehen.
Die Gefängniswärterin verschwindet. Stattdessen geht jetzt der andere Polizist voran. Draußen blendet sie das helle Licht. Der Lärm trifft ihre Ohren wie ein Schlag nach den Tagen und Nächten der Stille.
»Mörderin!«
»Zigeuner raus!«
Gesichter. Rot vor Aufregung.
Wut.
Hass.
Angst.
Der Polizist geht schneller. Die Polizistin zieht an ihrem Arm.
»Vorwärts!« Von hinten schiebt der andere Polizist. Adriana fühlt sich wie ein Tier.
Plötzlich trifft etwas Kaltes sie seitlich am Kopf.
Panik.
Sie wird hochgehoben. Als sie wieder denken und fühlen kann, sitzt sie in einem Transporter. Vergitterte Scheiben.
Adriana zittert am ganzen Körper. Sie bekommt keine Luft.
Die Großmutter. Kann nicht atmen. SCHEINASYLANTENZIGEUNER!
Die Polizistin telefoniert. »Wir brauchen bei Ankunft einen Arzt. So ist sie nicht vernehmungsfähig.«
Ihre Zähne klappern, als habe sie Fieber. Der Polizist kommt von vorne und bringt ihr eine Decke. Sie hüllt sich darin ein.
»Frau Ciurar!« Die Polizistin telefoniert nicht mehr. »Können Sie mich verstehen?«
Adriana nickt.
»Es ist ja nichts passiert, Frau Ciurar. Sie stehen im Verdacht, ein Tötungsdelikt an einem deutschen Staatsbürger begangen zu haben. Die Leute sind aufgebracht. Sie müssen das verstehen.«
Adriana schließt die Augen. Sie muss das verstehen. Und die Großmutter? Und Vater? Warum, warum nur musste sie an diesen verfluchten Ort zurückkehren? Sprich zu mir, Vater! Erkläre es mir!
20. Juni 2012, Turnu Severin
Walachei, Rumänien
Diesmal hat Georgel sich den Wagen seiner Mutter geliehen, einen blauen Ford Ka, der aussieht, als wäre er ihm eine Nummer zu klein. Mattie wartet draußen vor dem Hotel, um sich die Blicke von hinter der Rezeption zu ersparen. Auch wenn der Hoteltyp ihr mittlerweile das Frühstück in eisigem Schweigen serviert, das Green Hotel hat immerhin WLAN. Die halbe Nacht hat sie im Internet verbracht, um sich ein Bild davon zu machen, wie die Roma in Rumänien leben. Es ist kein schönes Bild.
»Warum kein Taxi heute?«
Georgel winkt ab. »Ich kann diese Scheiße keinen Tag länger ertragen.«
»Welche Scheiße?«
»Dieses Viertel ist gefährlich. Die Leute sind Verbrecher. Sehen Sie sich die Autos an! Alle geklaut. Und wenn schon!« Er haut mit der Faust aufs Lenkrad und dreht die Musik lauter. Hardcore.
Mattie kaut auf ihrer Lippe. »Du findest es okay, wenn die Autos geklaut sind?«
Georgels Blick sagt alles. Entfremdung. »Darum geht’s doch gar nicht.« Er schweigt. Sie fahren wieder über den Kanal. Der Ford beginnt zu hopsen. »Ja, ich find’s okay. Sollen sie den Reichen ihre Autos klauen. Guck doch mal, wie die Leute hier leben! Die Stadt kümmert sich einen Scheiß um die. Keine
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