Grenzfall (German Edition)
dass die Täter niemals im Gefängnis waren. Georgel seufzt, bevor er für Angelica übersetzt. Die ist sichtlich erschüttert. Ein Befehl an die Kinder, ein Junge rennt in die Küche und kommt mit einer Schachtel Zigaretten wieder. Angelica raucht schweigend. Lili steht hinter ihrer Großmutter, die Hand auf deren Schulter. Sie sieht Mattie an und sagt etwas.
»Sie fragt, ob du ihr versprichst, dass ihre Mama zurückkommt.«
Mattie will gerade antworten, als ohne Vorwarnung Ştefan auf der Bildfläche erscheint. Von einem Moment auf den anderen sind alle Kinder weg, ebenso Angelica und Lili. Ştefans Blick spricht Bände. Mattie und Georgel sollen verschwinden.
Auf dem Weg hinaus guckt sie wieder in die Küche. Eine Melodie erregt ihre Aufmerksamkeit. Auf einem großen Fernseher läuft Don 2. Sie kann nicht anders, sie muss stehen bleiben. Frauen und Kinder, die gebannt auf den Bildschirm starren.
Georgel zerrt sie fast mit Gewalt mit zum Ausgang. »Komm jetzt! Es kann hier verdammt ungemütlich werden, wenn wir nicht verschwinden.«
Die Angst ist schlagartig wieder da. Vor Liviu, vor den Brüdern Voinescu, vor den Blicken auf der Straße. Erst im Auto spürt Mattie, wie die Anspannung von ihr abfällt.
Selbst Georgel scheint erleichtert zu sein. Auf dem Rückweg kommt er für seine Verhältnisse in richtige Plauderlaune und erzählt ihr, dass es früher in Turnu Severin ein Kino gab, das fast ausschließlich Bollywoodfilme zeigte. »Meine Großmutter, also die Mutter meines Vaters, hat mich regelmäßig dahin mitgenommen.«
»Aber warum gerade indische Filme?«
»Na, ist doch klar. Die Filme sind wie Botschaften aus der Heimat. Alle sind hingegangen. Sie haben sich aufgebrezelt und die Lieder auf Hindi mitgesungen. Es gibt Ähnlichkeiten zwischen Hindi und Romanes, weißt du das nicht?«
Woher soll sie das wissen? Und dass die Roma nach tausend Jahren immer noch Indien als ihre Heimat ansehen.
Georgel zwinkert ihr zu. »Du hast auch nicht so viel mit Indien am Hut, stimmt’s?«
Darauf hat sie keine einfache Antwort. »Gibt’s das Kino noch?«
Er schüttelt den Kopf. »Hat Mitte der neunziger Jahre geschlossen. Das Publikum war ja komplett weg. Alle im Westen.«
Schade. Sie hätte Cal gern berichtet, wie es ist, in einer rumänischen Kleinstadt den indischen Kinohit der letzten Saison zu gucken.
Apropos Cal. In ihrem Hinterkopf meldet sich ein kleiner grüner Funke. Eine Idee. Operation Letzte Hoffnung.
21. Juni 2012, Hansestadt Kollwitz
Mecklenburg-Vorpommern, Deutschland
Mittsommernacht. Eigentlich ein heidnisches Fest, bei dem sie dennoch große Nähe zu Gott empfindet. Jedes Jahr aufs Neue. Nach der Wende: Endlich freier Ostseestrand für alle, ohne Kontrollen und ständige Beobachtung. Bevor sie noch recht begriffen, was vor sich ging, kam schon der Ansturm aus Berlin und Hamburg. Gier machte sich breit, bei den Einheimischen genauso wie bei den Schnäppchenjägern und den Immobilienhaien. Das eigentliche Geschenk, ein friedliches Stück ungeteilte Küste, wurde zunehmend übersehen.
Es braucht einen Anlass, innezuhalten. Dieses Wunder der Natur bewusst zu erleben. Seit 1991 brennt jedes Jahr an diesem Tag ein großes Lagerfeuer am Strand von Fichtenberg, jeder bringt etwas zu essen und zu trinken mit, wer hat, ein Instrument. Um Mitternacht gehen einige ins Meer, wenn im Norden noch ein letzter Streifen Licht zu sehen ist.
1992 haben sie das Fest zusammen mit den Roma gefeiert. Adriana hat getanzt. Ein Moment der Ausgelassenheit und des Friedens in jenem Sommer der Schrecken.
Gesines Gedanken kreisen unentwegt um die Raubmörderin. Jagen hin und her zwischen der stillen Auflehnung in ihrem heutigen, erwachsenen Gesicht und dem wütenden, traumatisierten Mädchen von damals. Der Friedhofsgärtner hat ihr berichtet, was gestern vor der JVA passiert ist. Seine Frau arbeitet dort in der Küche. Das grenzt ja an Lynchjustiz. Ein menschlicher Zug, den sie verabscheut. Dieses blinde Urteilen, Verurteilen. Das hat man im Nationalsozialismus gesehen: Wenn die Angst regiert, fällt die rechte Saat auf fruchtbaren Boden. Die Frage ist nur: Wovor haben die Menschen heute, 2012, solche Angst? Vor der Eurokrise? Vor Attentaten, Naturkatastrophen, Weltuntergang? Sie nimmt sich vor, dieses Thema in der Predigt am kommenden Sonntag anzugehen. Wenn die Menschen Gott und der Kirche nur so zulaufen würden wie Thilo Henning von der NPD. Die Schulleiterin hat den Eltern der betroffenen Schüler empfohlen,
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