Grenzfall (German Edition)
Straßen. Kein Licht. Kein Abwasser. Eine einzige Grundschule für das ganze Viertel.«
»Ich liebe meinen Bus. Wenn jemand ihn klaut, wäre ich unglücklich.«
»Besitz gehört umverteilt.« Georgel konzentriert sich auf die Schlaglöcher.
»Das sieht hier aber nicht danach aus.« Mattie zeigt auf die Gips-Paläste. »Weißt du, wie das für mich aussieht? Seht her. Dies ist meins. Das kann mir keiner nehmen. Auch wenn ihr uns jedes Recht absprecht, uns behandelt wie Abschaum. Dies ist das Zeichen unseres Stolzes.«
»Du siehst das zu romantisch.« Immerhin zeigt sich ein sarkastisches Lächeln auf seinem Gesicht. Mattie grinst zurück. Das Zusammensein mit Georgel macht ihr Spaß. Es erinnert sie an den turbulenten Beginn ihrer Freundschaft mit Cal.
»Und du romantisierst, jemandem einfach was wegzunehmen. Ohne zu fragen.«
Er schaltet in den ersten Gang und nimmt ein besonders tiefes Schlagloch in Angriff. »Was würdest du denn machen, wenn alle Welt sowieso von dir erwartet, dass du ein Dieb bist?«
Mattie überlegt. »Ihnen beweisen, dass ich anders bin.«
»Und was nützt das?« Georgel sieht sie an. »Es ändert gar nichts.«
»Wahrscheinlich hast du recht.« Sie wird darüber nachdenken müssen.
Georgel parkt direkt vor dem Tor des Voinescu-Hauses.
»Ist es okay, wenn wir es noch mal versuchen?«
Er nickt. »Es wäre gut, wenn diese Familie mal eine gute Erfahrung macht. Es würde etwas ändern. Für sie jedenfalls.«
Wieder Hunde und Kinder. Geduldig bleiben sie in der Mitte des Hofes stehen und warten darauf, dass ein Erwachsener auftaucht. Es kommt niemand. Plötzlich bildet sich eine Lücke, und das Mädchen steht vor ihnen. Heute ist sie geschminkt. Lolita mit dem tragischen Flair der zu frühen Abgeklärtheit. Wieder dieser eigenartige Blick. Erwachsen und mädchenhaft zugleich.
»Ich bin Lili«, sagt sie auf Englisch. Dann ein scharfer Befehl an die anderen Kids, und in kürzester Zeit stehen drei Plastikstühle auf dem Hof. Lili nimmt Platz wie eine Königin und bedeutet ihnen, sich ebenfalls hinzusetzen.
Georgel beantwortet geduldig ihre Fragen, während Mattie sie in Ruhe beobachtet und ab und zu freundlich nickt. Er hat eine gute Art mit den Kindern, ohne jede Herablassung und vor allem ohne lehrerhaften Unterton.
»Lili möchte wissen, wo du herkommst.«
»Aus Deutschland. Im Moment wohne ich in Berlin.«
Georgel übersetzt. Lili schüttelt unzufrieden den Kopf.
»Sie möchte wissen, woher du stammst. Deine Heimat.«
Mattie seufzt. Schon klar, wo der Hase hinläuft. »Mein Vater ist Inder.«
Georgel lässt sich seine Überraschung nicht anmerken. Lili klatscht in die Hände. »Sie sagt, sie hat es sofort gewusst. Gestern schon.«
Es folgt ein langer Vortrag von Lili via Georgel darüber, dass die Roma vor knapp tausend Jahren aus Indien nach Europa gekommen sind. Also ist man verwandt. Sie springt auf und rennt überhaupt nicht mehr damenhaft ins Haus. Kurz darauf kommt sie mit einer älteren Frau zurück. Die wirkt erschöpft. Matties Emma-geschulter sechster Sinn für Depressionen spürt die Düsternis, die über der Frau schwebt wie eine Wolke. Trotzdem strahlt sie eine gewisse Würde aus, als sie sich vorsichtig auf Lilis Stuhl setzt. Dann kommt die obligatorische Vorstellungsrunde.
»Sie ist Angelica, die Frau von Marius Voinescu.«
Mattie steht auf und gibt ihr die Hand. »Es tut mir sehr leid, was Ihrem Mann in Deutschland geschehen ist.«
Angelica schaut sie lange an und nickt. Der Blick geht Mattie durch und durch. Schnipsel aus alten Kinofilmen schießen ihr durch den Kopf.
»Sie ist Inderin!«, sagt Lili stolz, als wäre Mattie ihr persönliches Eigentum.
Um von sich abzulenken, fragt Mattie, ob Angelica sich an die Zeit in Deutschland erinnert. Georgels Übersetzung ist vorsichtig, bereit, jederzeit abzubrechen, wenn die Frage eine Grenze überschreitet. Mattie schickt ihm einen dankbaren Blick. Er ist wirklich ein Geschenk.
Angelica beginnt zu sprechen. Erst ganz leise, dann lauter. Sie richtet sich auf, und Mattie erahnt für einen Moment die Schönheit, die diese Frau verloren hat.
»Sie erinnert sich nicht genau, wie es war. Alles ist verschwommen in ihrem Kopf. Jemand hat ihr die Nachricht gebracht, dass ihr Mann getötet wurde. Sie ist ohnmächtig geworden. Immer wieder. Dann ist sie zurückgefahren mit dem Sarg. Am offenen Grab hat sie die Täter verflucht. Sie hofft, dass sie bis heute im Gefängnis schmoren.«
Mattie zögert, dann sagt sie ihr,
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