Grenzfall (German Edition)
Strafanzeige zu stellen. Gerade mal eine Anzeige ist bei der örtlichen Polizeidienststelle eingegangen. Eine traurige Bilanz.
Sie fährt mit dem Fahrrad auf dem Deich in die Innenstadt. Ein steifer Westwind pustet sie ordentlich durch. Das Auspowern tut ihr gut und vertreibt die tristen Gedanken. Gesine versucht, sich auf das Rezept für den mediterranen Kartoffelsalat zu konzentrieren, den sie für das Mittsommerbuffet beisteuern will. Ohne Mayonnaise, eine Herausforderung an den norddeutschen Geschmack. Der selbstgemachte Holunderblütensirup aus dem Pfarrgarten steht schon in der Diele bereit.
Auf dem Marktplatz dominiert der Wahlkampf. Die Stände der Bauern aus der Umgebung verschwinden fast neben den knalligen Sonnenschirmen, unter denen Anhänger aller Parteien um die Gunst der letzten Stunde kämpfen. Die Gemütlichkeit der Markttage fehlt, die Leute stehen nicht herum und klönen. Viele hasten mit gesenkten Köpfen vorbei, um nicht angesprochen zu werden. Einige scheinen sich tatsächlich noch so kurz vor dem Urnengang für die Ziele dieser Wahl zu interessieren.
Gesine steigt ab, schließt ihr Rad an einen Fahrradständer und geht zu ihrem Gemüsestand. Der Biobauer wiegt die Kartoffeln ab. »Ich glaube, die stellen sich extra hier neben mich. Nicht zum Aushalten ist das!«
Gesine nickt. Unter den Schirmen der NPD steht wieder eine ganze Traube von Menschen. Alte, Arme, Mütter mit Kinderwagen. Sie bezahlt ihre Kartoffeln und schlendert hinüber.
Diesmal spricht nicht der Landesvorsitzende, sondern der regionale Kandidat. So ein junger Blasser, der Name ist ihr entfallen. Nur dass er Student der Wirtschaftsinformatik ist, hat sie behalten. Ein Student!
»Es kann doch nicht angehen, dass man hier als Zigeuner hereinspaziert und deutsche Bürger umbringt. Ja, ich benutze dieses Wort mit Absicht, die Zigeuner selbst benutzen es. Dem unterwürfigen Multikulti-Sprachgebrauch der Berliner Demokratur wollen wir uns nicht anschließen. Und jetzt sitzt diese Mörderin hier in Kollwitz in der JVA und wird von unseren Steuergeldern durchgefüttert. Haben wir so viel Geld? Müssen wir obendrein noch fünfzigtausend Euro aus den Kommunen beisteuern, um dem Schuldkult von 1992 in Fichtenberg und Rostock-Lichtenhagen zu finanzieren? Haben wir in Deutschland keine dringlicheren Notstände?« Er hält das Mikrofon demonstrativ in die Menge. Gesine geht schnell weiter. Es deprimiert sie, mit anzuhören, wie die Menschen diesen Demagogen ihre Sorgen und Nöte anvertrauen.
Gleich nebenan präsentiert sich mit großem Aufwand die CDU. Ein Musikant mit Schifferklavier spielt Shanties und versucht die Reden von der NPD zu übertönen. Der Bürgermeisterkandidat Jochen Wedemeier höchstpersönlich schüttelt Hände. »Nein, meine Dame, ich denke, das ist ein Einzelfall, machen Sie sich keine Sorgen. Die Frau sitzt ja bereits hinter Schloss und Riegel. Unsere Kommune verfügt über einen guten Polizeiapparat, den wir allerdings gerne ausbauen würden, um dem wachsenden Sicherheitsbedürfnis gerade unserer älteren Mitbürger gerecht zu werden.«
Wedemeier hat Gesine entdeckt und bezieht sie sofort in seine Rede mit ein. »Die Frau Pastorin und ich sind uns sicherlich einig darüber, dass unsere christlichen Werte um jeden Preis geschützt werden müssen.«
Gesine ist empört über diese Vereinnahmung. »Aber gelten diese christlichen Werte nicht für alle Menschen? Rechtfertigen sie, dass sich vor der JVA ein Lynchmob zusammenrottet, der noch vor der Verurteilung das Gesetz in die eigene Hand nimmt?«
Wedemeier scheint bei diesem Stichwort zu Hochform aufzulaufen. »Natürlich lehnen wir als Partei der bürgerlichen Mitte jede Form der Gewalt ab. Aber lassen Sie es mich so ausdrücken: Verstehen kann ich die Leute schon. Wir reden ja hier nicht nur von der Tat selbst, sondern von fremden Sitten, Moralvorstellungen, die wir mitunter nicht nachvollziehen können. Wir sind schließlich im schönen Vorpommern und nicht auf dem Balkan.« Damit erntet er den billigen Applaus, den er haben will.
Gesine fühlt sich in die Defensive gedrängt. »Wenn ich etwas nicht nachvollziehen kann, dann, dass diese Republik, insbesondere Ihre Partei, offensichtlich auf dem rechten Auge blind ist. Nehmen Sie nur die Pannen bei der NSU-Ermittlung –«
»Ihre Ablenkungsmanöver in Ehren, Frau Matthiesen«, unterbricht Wedemeier und wirft einen Blick in die Runde, die bereits angewachsen ist. »Aber wir Pommern brauchen was zwischen den
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