Grenzfall (German Edition)

Zähnen!« Wieder wird er mit Applaus belohnt. »Wir brauchen das Gefühl, in Berlin nicht vergessen zu werden!« Er deutet nach rechts. »Sehen Sie die Herren von der NPD da drüben? Das sind keine Skinheads mit Bomberjacke und Springerstiefeln mehr. Die tragen heute Schlips und Kragen. Die eröffnen Bürgerbüros in den Städten und Dörfern. Sie organisieren Essen auf Rädern und Einkaufsdienste. Dem müssen wir Einhalt gebieten, da müssen wir uns aufstellen und rechtsstaatliche Alternativen anbieten.«
    »Wollen Sie damit sagen, man muss dieses rechte Gerede auch noch nachplappern?« Gesine ist aufgebracht über Wedemeiers rhetorische Kunststückchen. »Sie fischen am rechten Rand, Herr Wedemeier. Da gehe ich nicht mit.« Sie wendet sich ab.
    »Ja, gute Frau, gehen Sie nur. Die Linke wird Sie sicher mit offenen Armen willkommen heißen.« Gelächter brandet auf.
    Nun, wir werden ja sehen, ob du auch nach der Wahl die Lacher auf deiner Seite hast, denkt Gesine. Die Lust auf den gemütlichen Klönschnack beim Wochenmarkt ist ihr jedenfalls vergangen.

21. Juni 2012, Turnu Severin
Walachei, Rumänien
    Sie hat Georgel angelogen. Nach dem Rausschmiss von gestern hätte er sich nie bereit erklärt, auf gut Glück noch mal zu der Familie zu fahren. Nicht weil er ein Angsthase ist. Sondern weil er bedingungslos an die Entscheidungsfreiheit des Individuums glaubt. Und vielleicht auch, weil es bescheuert ist, unnötige Risiken einzugehen.
    Ein bisschen flau ist Mattie schon, als der Ford wieder durch die Schlaglöcher rumpelt.
    »Wenn meine Mutter wüsste, dass ich mit ihrem Auto hier langfahre, würde sie mich umbringen.« Ob er was gemerkt hat? Sein Gesichtsausdruck verrät nichts.
    Es hat sie eine schlaflose Nacht gekostet. Um vier Uhr morgens hatte sie, was sie wollte. Um sechs hat sie den armen Georgel aus dem Bett geklingelt. Sie hat ihm erzählt, Liviu habe sich bei ihr gemeldet. Die Familie will sie noch einmal sehen. Georgel hat nur gebrummt. Pünktlich um neun stand er wieder vor dem Hotel. Sie hätte ihn am liebsten umarmt, aber er hat ihr erzählt, dass er eine Freundin hat, und sie will ihn nicht in Verlegenheit bringen.
    Mattie überprüft zum wiederholten Mal, ob ihr Laptop, den sie auf dem Schoß hat, geladen ist. Das bringt ihr einen Seitenblick von Georgel ein.
    »Wozu brauchst du den Computer?«
    »Überraschung.«
    Hoffentlich ist es nur das Rührei, das da in ihrem Bauch rumort. Heute kommt ihr die Strecke viel kürzer vor. So früh am Vormittag sind die Straßen des Viertels fast leer. Das verstärkt den Eindruck, durch eine künstliche Kulissenstadt zu fahren, die den Glanz der abendlichen Inszenierung braucht, um ihren Reiz zu entfalten. Auch der Hof der Familie Voinescu ist leer.
    Vorsichtig öffnen sie das Tor und betreten das Grundstück. Die beiden Hunde kommen. Man kennt sich, ein müdes Schwanzwedeln. Mattie winkt Georgel zu dem Küchenhäuschen. Angelica steht vor einem dampfenden Topf, ein kleines Mädchen auf dem Arm. Georgel bleibt in der Tür stehen und räuspert sich. »Bun ă ziua, Doamn ă Angelica.«
    Erschrocken fährt sie herum, starrt sie an. Das Mädchen spürt die Angst der Großmutter und fängt an zu weinen. Angelica wischt sich mit dem Ärmel den Schweiß ab, dann die Tränen der Kleinen. Sie spricht zu Mattie, auf Rumänisch.
    »Sie sagt, du sollst gehen. Ihre Söhne kommen gleich. Soll ich ihr erklären, dass Liviu –«
    »Nein.« Mattie erwidert den Blick der Frau, während sie mit Georgel spricht. »Frag sie einfach, ob Lili da ist.«
    Georgel gibt einen überraschten Laut von sich. Trotzdem übersetzt er. Angelica geht wortlos an ihnen vorbei auf den Hof und ruft nach Lili. Das Mädchen kommt aus dem Haus gerannt. Diesmal trägt sie T-Shirt und Shorts, die Haare sind noch nass. Ein Kind, keine Lolita. Ihre Wangen sind vor Aufregung gerötet.
    Mattie platziert den Laptop für alle sichtbar auf dem Küchentisch und betet, dass es funktioniert.
    Da ist die Datei.
    Sie startet das Video, das sie während der nächtlichen Telefonkonferenz mit Cal mitgeschnitten hat. Auf dem Bildschirm erscheint Vivek Sen, Bollywood-Superstar, und grüßt Liliana Voinescu Ciurar aus Turnu Severin. Liliana kreischt vor Begeisterung und greift nach dem Laptop. Mattie hält sie fest, bevor sie wahllos irgendwelche Tasten drücken kann.
    In diesem Moment kommt Ştefan in die Küche, gefolgt von Florin. Georgel stellt sich vor Mattie. Ştefans Augen sprühen Funken vor Wut. Florin baut sich neben