Grenzfall (German Edition)
schieben? Und sich dann noch vom Chef ’ne Abmahnung holen, wenn er die halbe Nacht gelöscht hat und montags zu spät zum Dienst kommt?«
»Wusste ich nicht.«
»Das weiß niemand.« Sie ist jetzt richtig in Fahrt. »Weil sich niemand mehr Gedanken darüber macht, wie eigentlich eine Solidargemeinschaft funktioniert.«
»Stimmt.« Er sagt das nicht nur so. Sie hat recht.
»Die NPD unterwandert ganz bewusst die Wehren hier im Umkreis. Da haben sie Zugriff auf die Jugend. Da können sie ihr Gedankengut verbreiten.«
Er nickt. Langsam wird ihm klar, worum es geht.
»In Koblentz drüben hatten sie bei der letzten Wahl schon über dreißig Prozent. Das ist jeder dritte Wähler. Keiner will sich mit denen anlegen.«
Das Gespräch ist beendet. Sie geht wieder voraus und setzt sich zu ihren Leuten auf die Bank.
Nick wirft einen Blick in die Runde. Der junge Typ dahinten auf dem Strohballen. Oder die Frau mit den kurzen Haaren am Tisch. Jeder könnte es sein. Kein schönes Gefühl.
24. Juni 2012, Braşov
Transsilvanien, Rumänien
Déjà-vu. Wieder Geisterstunde. Wieder der Bahnhof von Bra ş ov.
Die letzten Stunden dieses ereignisreichen Tages haben Silvia, Nadina und Mattie bei Bogdan und Paula auf dem Sofa verbracht. Untergetaucht vor Nadinas Brüdern. Ganz leise hineingeschlichen, damit Schindler nichts mitbekommt. Mattie hat genug von seinen Visionen eines paradiesischen Roma-Staats. Am liebsten mit ihm persönlich an der Spitze vermutlich.
Sie haben alle Möglichkeiten durchgesprochen. Mattie kommt allein an das Geld nicht ran. Silvia hat nicht mal einen Ausweis. Sie hat Rumänien noch nie verlassen. Die Söhne waren alle vier schon mal in Frankreich oder Italien zum Arbeiten. Mattie will aber nicht mit einem Typen nach Berlin fahren, den sie nicht kennt. Silvia versteht. Also bleibt nur Nadina. Sie haben ihr einen Pass machen lassen, für eine Klassenfahrt nach Paris vor zwei Jahren. Und sie hat eine Geburtsurkunde. All das lag natürlich in Silvias Schublade im Haus. Ebenso der Brief, der mit dem Toten nach Bukarest kam. Auf dem Weg zum Bahnhof hat Bogdan an der großen Straße hinter dem Umspannwerk gehalten. Die beiden Frauen haben sich ins Haus geschlichen.
Jetzt wird es ganz schön eng. Bogdan hält mit quietschenden Reifen. Der Zug steht schon auf dem Gleis. Silvia redet aufgeregt auf ihre Tochter ein.
Mattie wendet sich an Bogdan. »Vielen Dank.« Sie drückt seine Hand. Er wird schon verstehen.
Silvia und Nadina in stummer Umarmung am Bahnsteig.
Mattie sucht den Schlafwagenschaffner. Fahrkarten hat sie schon, Bettplätze muss sie mit ihm direkt verhandeln.
Da ist er ja. Steigt aus und zündet sich eine Zigarette an. Der gleiche Typ wie gestern. Ein netter junger Ungar. Hat ihr erzählt, dass er in Budapest wohnt.
Klar hat er noch zwei Betten. Ein ganzes Abteil ist noch frei. Mattie bezahlt. Ruft nach Nadina.
Nadina kommt angerannt, Silvia im Schlepptau.
Der Schaffner starrt Silvia an. Verschwindet im Zug.
»Mama ist hysterisch. Sie will wissen, wo ich wohne in Berlin.«
»Bei mir.« Gut, dass Silvia nicht weiß, dass ihr Zuhause noch kleiner ist. »Und meine Nachbarn sind Ţigani.«
Silvia strahlt, als Nadina das übersetzt. Sie kneift ihre Tochter in die Wange. Tränen fließen.
Plötzlich ist der Schaffner wieder da. »Leider ist doch kein Bett mehr frei.« Er will ihr das Geld zurückgeben. »Vielleicht finden Sie weiter vorn noch einen Sitzplatz.«
Mattie folgt seinem Blick. Silvia. Langer Rock, Tuch um die Haare.
»Ist was?« Nadina steht hinter ihr, bereit zum Einsteigen.
Mattie steigt die Stufen hoch, bis sie direkt vor ihm steht. »Diese junge Frau und ich fahren zu einer Menschenrechtskonferenz in Berlin«, flüstert sie ihm zu. »Wollen Sie, dass wir dort öffentlich darüber sprechen, dass einer Romni von einem ungarischen Schaffner ein Bett verweigert wurde?«
Er sieht ihr nicht in die Augen. Ist nicht sicher, ob sie blufft.
Mattie reicht es. »Wäre es angemessen, wenn ich die beiden leeren Betten in dem Abteil ebenfalls bezahle?«
Langsam zieht er seinen Block aus der Tasche.
»Ich brauche dafür keine Quittung.« Sie gibt ihm einen Fünfzig-Euro-Schein. Einen Rassisten zu bestechen ist wirklich das Allerletzte. Sie will nur noch weg von dem Typen. Schlafen. Vergessen.
Er geht vor und öffnet die Tür zum Abteil. »Bitte sehr, die Damen.«
Mattie und Nadina stellen ihre Taschen auf die Betten. »Er wollte mich nicht mitnehmen, was?«, fragt Nadina, als der Mann
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