Grenzfall (German Edition)
allein lassen. Warum können nicht alle an der Kirche parken?«
»Das ist mein letztes Wort.« Die Pastorin bleibt hart. »Dann können eben nur Sie bleiben.«
Nadina sieht sie überrascht an. »Ich?«
»Warum nicht?« Sie nimmt ihr Fahrrad und schiebt es den Deich hoch. Dann steigt sie auf und fährt gegen den Wind davon.
Nick berührt vorsichtig Matties Arm. Sie zittert vor Wut.
28. Juni 2012, Hansestadt Kollwitz
Mecklenburg-Vorpommern, Deutschland
Ihre kreativste Zeit ist morgens vor acht. Gesine trinkt um diese Stunde bewusst keinen Kaffee, um den Fluss der Gedanken in seiner natürlichen Geschwindigkeit zu erleben. Sie nimmt einen Schluck grünen Tee und schlägt das Notizbuch auf. Die Sonne steht bereits hoch am Himmel. Die Schwalben, die unter dem Rohrdach des Pfarrhauses nisten, fliegen ein und aus, um den nie versiegenden Hunger ihrer Brut zu stillen.
Der Reisebus von Mattie Junghans parkt nicht mehr vor dem Fenster. Als sie kurz vor Mitternacht ins Bett gegangen ist, war er noch da. Die junge Romni kam gegen zehn Uhr abends und verschwand bald im Gästezimmer, das Gesine für sie hergerichtet hatte. Sie aufzunehmen war wieder eine ihrer berühmten Instinktentscheidungen, wie Arno das immer genannt hat. Göttliche Eingebung klingt vielleicht zu hoch gegriffen, aber sie ist sicher, dass Gottes Hand sie in diesen Momenten stärker leitet als ihr Verstand. Bisher hat er sie nie enttäuscht.
Das Thema für den plattdeutschen Gottesdienst am Sonntag hat heute früh Priorität. Was war ihr noch auf dem Fahrrad durch den Kopf gegangen? Angst. Krise. Attentate. Naturkatastrophen. Weltuntergang.
Sie schreibt die Stichworte auf eine neue Seite, um dann mit der groben Gliederung des Textes zu beginnen. Lautes Motorengeräusch lenkt sie ab. Unwillig hebt sie den Kopf. Was haben diese Leute denn in aller Herrgottsfrühe schon zu tun?
Kurz darauf hört sie die Haustür. Seufzend legt sie den Füllfederhalter auf das Buch und geht in die Diele.
»Oh, Entschuldigung! Wir wollten nur kurz –« Die Junghans zeigt auf die Tür der Gästetoilette. »Der Tank im Bus ist leer und Sie sagten ja, es sei kein Problem.«
Hinter ihr tritt der Journalist ins Haus. Der war ihr gestern auf Anhieb sympathischer, er ist bei weitem nicht so aggressiv. Er hält die schmutzigen Hände hoch und lächelt. Das Lächeln erinnert sie an Arno. Ein gewinnendes Wesen bringt einem viele Vorteile im Leben. Er verschwindet im Bad, während die Frau sich im Flur an die Wand lehnt. Mit gerunzelter Stirn betrachtet sie Arnos Stele.
»Eine Arbeit von meinem Mann. Ex-Mann.«
»Aha.«
»Wo sind Sie denn schon gewesen?« Gesine versucht ihr Unbehagen mit Konversation zu überspielen.
»Auf dem Feld, wo die beiden Roma ermordet wurden.«
»Mord ist ein hartes Wort.« Gesine legt den Finger auf die Lippen und deutet auf das Gästezimmer. »Meines Wissens war es doch eher ein Unfall. Möchten Sie auf einen Tee hereinkommen?« Sie muss gestehen, dass sie neugierig ist, was die beiden über den alten Fall zutage fördern. Sie geht in die Küche voraus, um frisches Wasser aufzusetzen.
Kurz darauf sitzen sie zu dritt am Küchentisch.
»Was haben Sie dort so früh gemacht?«
»Wir wollten die Lichtverhältnisse möglichst auf den Tag genau rekonstruieren.«
»Wo wir schon mal hier sind«, fügt der Journalist hinzu.
»Mord.« Ein herausfordernder Blick. Die Frau ist wirklich anstrengend. »Es war so hell, dass man wohl kaum von einem Unfall sprechen kann. Oder muss sich ein Jäger nicht zuerst vergewissern, auf was er schießt?«
»Natürlich muss er das Wild ansprechen.« Gesine kennt genug Jäger, um zu wissen, wie genau die Vorschriften das Töten regeln. »Und vor allem muss er sich nach dem Schuss davon überzeugen, dass das Tier nicht verletzt ist und unnötig leidet.«
»Das gilt offensichtlich nur für Tiere, nicht für Menschen.« Wieder dieser aggressive Unterton.
Sie steht auf und gießt Tee aus der Kanne in zwei Keramikbecher.
»Vielen Dank.« Ostrowski nimmt einen Schluck Tee. »Sagen Sie, können Sie uns einen kurzen Eindruck geben, wie die Verhältnisse in Fichtenberg 1992 waren?«
»In aller Kürze wird das schwierig.« Gerne denkt sie nicht an diesen Sommer zurück. »Es war eine turbulente Zeit, mit vielen Höhen und Tiefen. Wir waren voller Enthusiasmus, uns in die neue Demokratie zu stürzen. Wir standen ja alle der Bürgerbewegung in der ehemaligen DDR nahe. Mein Ex-Mann Arno, er ist Bildhauer, wurde für das Neue Forum
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