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Grenzgang

Grenzgang

Titel: Grenzgang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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wäre.
    Kamphaus’ Tochter hatte mit Wachsmalstiften ein Bild von den Affen gemalt, und es war ein Indikator für seinen, Weidmanns, Zustand, dass er erwog, es von der Wand zu reißen, zusammenzuknüllen und Jan Kamphaus an den Kopf zu werfen. Der massierte sich gar nicht die Nase, sondern strich sich die Verlegenheit aus dem hageren Gesicht, seinen Anflug von Mitleid mit dem Verlierer.
    »Ich glaub ja immer noch, dass es auch anders gegangen wäre«, sagte er, die Augen auf den Bildschirm gerichtet, mit der zweiten Gehirnhälfte immer noch bei seinem Text.
    Ein großes, gut ausgestattetes Büro, in dem sie die letzten anderthalb Jahre zusammengearbeitet hatten. Kamphaus’ Regale standen zum Bersten voll mit Büchern, Ordnern und Mappen. Draußen die subtile Gemeinheit eines Sommertages. August. Wir werden drei Tage lang Sonne haben, hatte seine Mutter am Telefon gesagt. Weidmann stand vor der Tür, und alles, was er tun konnte, war, einen Moment später zu gehen, als er gehen musste. Sich der letzten Pflicht des Geschassten zu widersetzen und nicht lautlos zu verschwinden. Ohne auf Kamphaus’ Äußerung zu reagieren, sagte er:
    »Stört’s dich nicht, wie Wilkens immer die Luft durch die Zähne zieht? Immer dieses ts, ts, wenn er versucht, sich zu konzentrieren?«
    Wilkens konnte natürlich auch nichts dafür, aber der warein anderer Fall. Sollte er nicht wenigstens die Bücherkartons aus dem Regal fegen, die da standen als Vorhut des Neuen? In Reih und Glied, Kante auf Kante, so ordentlich wie Wilkens’ Hemdkragen, wie sein Seitenscheitel und die Angewohnheit, lateinische Wendungen in seine Rede einzubauen. Vielleicht war doch ein Funken Wut in ihm, aber viel zu klein, um ihn in Flammen zu setzen und zu Taten zu treiben. Also stand er da und wartete.
    Eine Antwort bekam er nicht.
    Sei ein Mann. So hatte es Konstanze ausgedrückt.
    Abwesenheit von Gefühlen, stellte er fest, ist auch ein Gefühl. Seltsam luzide, nicht einmal unangenehm, eine Empfindung mit einer gewissen Verführungskraft: Kante auf Kante am Rand der eigenen Fassung zu stehen. Aber er würde sich nicht gehenlassen. Wilkens war zwar ein Trottel, aber kein Feind. Schlegelberger war das Gegenteil von einem Trottel und ebenfalls kein Feind, außerdem übermächtig. Der wusste um seine Unantastbarkeit, die im Lauf der Jahre eine Innenseite bekommen hatte, eine majestätische Gleichgültigkeit gegenüber Schülern, die die in sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllten. Das galt als Regelverstoß, und setzte man Schlegelberger die Pistole auf die Brust, würde er wahrscheinlich darauf hinweisen, er habe sie schließlich nicht gemacht, die Regeln. So ziemlich die einzige Illusion, die der alte Knochen sich erlaubte.
    Wie eine Säule aus stummem idiotischem Protest stand er in seinem ehemaligen Büro.
    »Würdest du dich eigentlich selbst als Dickschädel bezeichnen?«, fragte Kamphaus. »Ich nämlich schon.«
    »Dich selbst als …«
    » Dich . Das war seinerzeit ein ernsthaftes Angebot, die Habil noch mal …«
    »Das war kein ernsthaftes Angebot, sondern eine kalkulierte Demütigung.« Er sagte das so ruhig und bestimmt wie möglich, erkannte an sich selbst den Habitus des souveränen Gelehrten, mit dem er bei Konferenzen auf Einwände oder im Seminar aufFragen von Studenten reagierte und der ihm in diesem Augenblick wie eine Verkleidung erschien, so als hätte er sich beim Bergenstädter Grenzgang in das Kostüm von Mohr oder Wettläufer geworfen. »Eine kalkulierte Demütigung«, wiederholte er. Speech pattern , sagten sie dazu in Amerika.
    Was würde er eigentlich künftig mit seinem Gelehrtenhabitus anstellen?
    Kamphaus machte immer noch mit seiner Brille rum, setzte sie zwar auf die Nase, aber schielte von innen dagegen, als wollte er die Gläser nach Sprüngen absuchen.
    »Eine Dioptrie mehr als die letzte«, sagte er missmutig, »und irgendwie stimmt die Entfernung nicht. Übrigens soll ich dich von Mareile grüßen und dir alles Gute wünschen.«
    »Danke.«
    »Scheißspiel, was?«
    »Du wirst Wilkens ja gar nicht so lange ertragen müssen, wenn das mit dem Ruf nach Leipzig klappt.«
    Darauf erwiderte Kamphaus wieder nichts, sondern bewegte seine Maus, machte einen Klick und legte dann die Hände in den Schoß, über Kreuz.
    Für einen Moment genoss Weidmann den Unglauben, der mit geradezu körperlicher Qualität von ihm Besitz ergriff. Er würde die Tür hinter sich schließen und nie wieder zurückkehren in diesen Raum, sondern ein Leben

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