Grenzgang
wie Wasser, das über einen Brunnenrand läuft.
»Ist ein bisschen mehr geworden«, sagt Kerstin entschuldigend und unterdrückt den plötzlichen Wunsch, Frau Preiss zu sagen, dass sie Geburtstag hat.
»Meine Güte! Ich bitte Sie, Frau Bamberger, das wäre doch nicht …«
»Werner. Ich heiße wieder Werner, seit …«
Frau Preiss lässt den Mund offen stehen und legt wie in Zeitlupe ihre Hand darauf, während ihre Augen weit werden vor Schreck.
Der Fliederstrauß ist zwischen ihnen, als wären sie plötzlich zu dritt.
»… Entschuldigung.« Es klingt wie ein letztes Wort vor der Ohnmacht und hält Kerstin davon ab, einfach über den Lapsus hinwegzugehen und Frau Preiss den Flieder in den Arm zu legen wie vorher bei König’s den todgeweihten Broccoli. In irgendeinem Geschäft in Bergenstadt passiert ihr das jede Woche, auch jetzt noch, sechs Jahre nach der Scheidung.
»Schon gut.«
Aber Frau Preiss schüttelt den Kopf hinter ihrer Hand und sagt:
»Nein.«
»Mir passiert das oft.«
»Umso schlimmer.«
»Ist eben so« … auf dem Land, hat sie hinzufügen wollen, unterlässt es aber. Soweit sie weiß, kommt Frau Preiss von hier.
»Das ist es, was ich vorhin meinte mit dem Karma und den Pflanzen. Unter meinen Händen … Ich bin nicht aufmerksam genug.« Frau Preiss hebt den Blick, und ihre Hände berühren einander kurz, als Kerstin ihr den Flieder gibt. In der Diele ertönen quietschende Schritte, und Kerstin hofft, ihre Mutter werde erstens im Haus bleiben und zweitens nicht plötzlich die Tür von innen abschließen.
»Der braucht viel Wasser.«
»Danke. Ist das Ihre Mutter?«
»Ja.«
»Sie sind mir nicht böse, oder?«
»Nein.«
Frau Preiss nickt und lächelt, hält den Flieder in der Armbeuge wie ein Kind und erinnert Kerstin an eine Schauspielerin, deren Name ihr aber nicht einfällt. Die schmalen Lippen sind es,die ihrem Gesicht diesen Eindruck von Zerbrechlichkeit geben. Die Musik aus dem Auto ist verstummt.
»Ich muss los.«
»Danke fürs Bringen.«
»Danke für den Flieder.« Frau Preiss bettet den Strauß sorgfältig auf den Rücksitz, steht einen Moment neben dem Auto, als müsse sie nachdenken, und sagt: »Warten Sie«, bevor sie sich noch einmal über die Rückbank beugt. Mit einer Flasche Sekt in der Hand richtet sie sich wieder auf.
»Nein, das …« Kerstin hebt abwehrend die Hände und schüttelt den Kopf.
»Doch, unbedingt.«
»Es ist weder nötig noch …«
»Ich bestehe darauf.« Wieder stehen sie sich gegenüber und sehen einen Moment lang aneinander vorbei. Wahrscheinlich sind es Begebenheiten solcher Art, derentwegen sie so selten unter Menschen geht. Dauernd passiert ihr das, immer nehmen die Dinge auf einmal eine Wendung ins Gezwungene und halb Peinliche, in die Randbereiche der Lächerlichkeit, wo sie ihren Stolz zusammenraffen muss wie ein zu langes Kleid auf matschigem Boden. Und dabei lächeln, lächeln, lächeln.
»Sehen Sie, ich weiß ja, dass heute Ihr Geburtstag ist.« Frau Preiss spricht so leise, als wäre es eine Erklärung der intimeren Art, die sich nur mit Blick auf den Gartenzaun über die Lippen bringen lässt.
»Woher wissen Sie das?«
»Es ist, wenn Sie so wollen, mein Job, als Schriftführerin der Rehsteigfrauen. Ich führe die Mitgliederliste, und da stehen alle Geburtstage drauf, weil es bei runden Geburtstagen ab fünfzig aufwärts bekanntlich üblich ist, dass gesungen wird. Was ja in Ihrem Fall … also herzlichen Glückwunsch.«
Weil die Flasche im Weg ist, wird aus dem Handschlag eine schüchterne Berührung der Arme, dann steht Kerstin auf dem Bürgersteig und weiß nicht, was sie sagen soll.
»Danke«, bietet sich immerhin an. Angenehm rund und glatt liegt die Sektflasche in ihrer Hand.
»Ich hätte Ihnen natürlich sofort bei König’s gratulieren müssen. Wahrscheinlich denken Sie, ich sei nicht mehr ganz richtig oder so.«
»Ich mache selbst nicht viel Aufhebens um diese Dinge – meinen Geburtstag, meine ich.«
Frau Preiss nickt und macht zwei Schritte rückwärts Richtung Fahrertür.
»Grüßen Sie Ihre Mutter.« Sie steigt ein, wirft einen kurzen Blick in den Rückspiegel, bevor sie losfährt und Kerstin zurückgeht ins Haus. Auf der Schwelle dreht sie sich noch einmal um, Frau Preiss hat gewendet und fährt in die andere Richtung, sieht aber nicht mehr her, und Kerstins Winken verliert sich über der leeren Straße.
Bis zum nächsten Mal, denkt sie.
Hinter ihr im Haus zerspringt ein Glas, und sie hofft, dass es nicht
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