Grenzgang
ihrer und Anitas Wohnung in Köln hat den ganzen Tag das Radio gespielt. Ein alter Transistor, dem man manchmal einen Klaps versetzen musste, damit er sich auf seinen Sender konzentrierte. Dazu Anitas Plattensammlung – die hatte sich immer schenken lassen, was ihr gefiel, und genug Männer gekannt, dass ihr vieles gefallen konnte und sie trotzdem alles bekam. Damals haben sie jedes Wochenende im Flur getanzt, zwischen herumliegenden Schuhen und im ständigen Kampf um die Führung. Ein Tango fatale mit Lockenwicklern im Haar. Anita war eine miserable Schülerin, renitent aus Prinzip und am Tanzen erklärtermaßen nur als einer Form des Vorspiels interessiert.
Sorgfältig tupft Kerstin die Filets trocken. Sie selbst hat das Tanzen sogar an der Uni studiert, und an manchen Tagen träumt sie immer noch von einem eigenen Tanzstudio. Kein Walzer- und Rumba-Geschiebe, wie es die Tanzschule Meier alle zwei Wochen im Bürgerhaus für die Jugend von Bergenstadt veranstaltet, sondern ein Studio für Jazz- und Bewegungstanz, echtes Training für junge Frauen, die das Leben noch vor sich haben. Ein großer heller Raum mit Spiegelwand, so wie der Übungsraum in Köln, mit einer langen Stange vor den Spiegeln, Bänken an der Seite, einer Stereoanlage mit großen Boxen. Davor eine Gruppe junger Mädchen in Stretchhosen und Trikots, verschwitzt auf dem Boden hockend, während sie die Musik aussucht, im Kopf die nächste Schrittkombination durchgeht und mit einem Ohr zuhört, worüber die Mädchen giggeln.
Mach dir nichts vor, hat Hans gesagt. Du hast es zwanzig Jahre lang nicht geschafft, so ein Studio aufzumachen. Und jetzt, wo Mutter bei dir einziehen soll, sprichst du von ›Plänen‹.
Dabei ist sie letzten Herbst tatsächlich losgegangen, um sich einen Raum anzusehen, den zweiten Stock über dem alten Modegeschäft Radheber, dessen Räume leer stehen, auch jetzt noch. Das ehemalige Lager im zweiten Stock. Man hätte die Wände neu machen und isolieren müssen, aber die Größe war ideal, und es gab zwei angrenzende Räume, aus denen manUmkleidekabinen hätte machen können. Sogar eine Toilette war vorhanden.
– Mit welchem Geld?
Sie hat ein bisschen angespart, aber Scheidungen von Selbstständigen sind finanziell immer schwierig, das hat der Anwalt ihr damals gleich als Erstes gesagt. Die haben zu viele Möglichkeiten, das eigene Monatseinkommen durch alle möglichen ›betriebsbedingten Kosten‹ nach unten zu drücken, auch wenn Jürgen natürlich jegliche Trickserei empört abgestritten hat. Er, der Aufrechteste unter den Aufrechten. Wenn sie wollte, könnte sie demnächst wieder eine Überprüfung und Angleichung der Unterhaltszahlungen verlangen, seine Kanzlei scheint gut zu laufen – aber sie will nicht. Und wenn sie ehrlich ist, hat sie an das eigene Studio auch nie wirklich geglaubt, sondern sich nur den Traum bewahren wollen, als Trost für gewisse Stunden. Ab und an eine Immobilienanzeige im Boten , ein Telefonat, und im Keller liegen auch noch Kataloge von Ausstatterfirmen, mit denen man sich in Verbindung setzen könnte wegen Schuhen, Trikots etc., was die Mädchen eben so brauchen würden. Freundinnen aus Kölner Tagen haben es gemacht und Erfolg gehabt.
– In Köln. Wie groß wäre der Interessentenkreis in Bergenstadt?
Es gibt Dinge, die geschehen nicht. Die bestehen aus zu vielen einzelnen Schritten: zur Bank gehen, einen Kredit aufnehmen, mit Firmen wegen der Renovierung verhandeln, einen Innenarchitekten konsultieren, ein Gewerbe anmelden, die Ausstattung aussuchen, ein Programm aufstellen, Kurse einteilen, Preise festlegen, ein Logo entwerfen, Handzettel drucken, Anzeigen schalten, und das alles, bevor sie zum ersten Mal den CD-Spieler auf Play stellt. Zu viele Hindernisse, jedes für sich genommen nicht groß, aber alle zusammen unüberwindlich. Es ist nicht Hans’ Schuld, sie hätte es einfach nie erwähnen sollen. Genau genommen sind sie ihr nämlich peinlich, diese Tagträume, die im selben Verhältnis zur Wirklichkeit stehen wie Wolken zur Erde.
Der Pfarrer im Zimmer ihrer Mutter spricht den Segen. HR 3 kündigt die Nachrichten an. Mit vierundvierzig macht man nicht plötzlich ein Tanzstudio auf.
Dann klingelt es an der Tür.
Klingeln ist ein gutes Zeichen. Es bedeutet, dass Daniel nicht einfach ins Haus schleicht und sich in seinem Zimmer verkriecht, sondern sein Eintreffen ankündigt und gewillt ist, die Begrüßung seiner Mutter über sich ergehen zu lassen – was er ihr an ihrem
Weitere Kostenlose Bücher