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Grenzgang

Grenzgang

Titel: Grenzgang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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beginnen, das er nie gewollt hatte und über das er in diesem Moment nichts wusste außer eben: es nicht gewollt zu haben. Ein schwindelerregendes Gefühl. Draußen schien die Sonne auf ein flaches Meer aus Dächern, in das die Geschichte ein paar Lücken gerissen hatte, die nun eifrig wieder gefüllt wurden. Vielleicht war es Adrenalin, was in ihm wallte, dieses Köcheln, das er desto stärker spürte, je stiller er stand. Und dann das Verpuffen. Draußen summte die Stadt und drinnen Kamphaus’ Computer, und noch weiter drinnen pochte sein Puls hinter den Schläfen. Er überlegte, seinen Kollegen zum Mittagessen einzuladen, aber das Wissen, dass Kamphaus sich zur Annahme verpflichtet fühlen würde, nahm ihm die Lust.
    Er selbst trank selten, aber wenn, dann heute.
    »Was ich nicht verstehe«, sagte Kamphaus, »du hast doch die ganze Zeit gewusst, dass Schlegelberger der Anti-Theoretiker par excellence ist.«
    »Ich hab geglaubt, ich könnte ihn überzeugen.«
    »Das hast du wirklich und allen Ernstes geglaubt?«
    »Hast du schon gegessen?«
    »Um halb eins geht mein Zug nach Bielefeld. Gastvortrag.«
    »Ich bring die Schlüssel weg und komm noch mal vorbei.«
    Er ging durch den Flur Richtung Sekretariat und bekam für das Aushändigen der Schlüssel eine Quittung der Form »Na denn, allet Jute, wa …« Nur Auto, Wohnung, dies und das blieben am Schlüsselbund zurück, der sich leicht anfühlte in der Tasche, ihn an früher erinnerte, aber ihm fiel nicht ein woran genau. Draußen auf dem Parkplatz wurde gearbeitet, ein Teerbelag ersetzte das tiefe Geläuf aus Sand und Matsch, um dessen wassergefüllte Gruben alle Mitglieder der hier untergebrachten Institute zwei Jahre lang wie die Flamingos herumgestelzt waren. Endlich jeht et wieder mit Absätzen, hieß es in den Sekretariaten. Näher zum Eingang hin wurden dunkle Bodenplatten in ihr Sandbett gelegt. Das Gebäude warf einen fein geschnittenen Schatten bis zum Rand der Invalidenstraße.
    Kamphaus sah erst auf, als Weidmann nach dem Karton auf seiner ehemaligen Tischhälfte griff. Stifte, Taschenrechner, postit-Zettel, die letzten zwei Bücher und eine Kaffeetasse mit dem verwaschenen Schriftzug der Pennsylvania State University .
    »Ich bin weg«, sagte er.
    »Ich bring dich runter.«
    In den Fluren waren kaum Studenten unterwegs, nur unten vor dem Bibliothekseingang standen kleine Grüppchen. Keine bekannten Gesichter darunter, stellte Weidmann erleichtert fest. Es kam ihm vor wie das erste echte Gefühl seit langem; eins, das er nicht mit Gedanken aus sich herauskitzeln musste, um es zu empfinden. Dann standen sie draußen auf der Rollstuhlrampe, der Baulärm der Stadt vertraut und nah, das Tür-zu-Signal einerTram wurde vom Wind in ihre Richtung getragen. Kamphaus streckte ihm die Hand entgegen:
    »Immerhin hast du noch dein Staatsexamen.«
    »Ich hoffe, das klappt mit Leipzig«, sagte Weidmann.
    »Alles Gute.«
    Du mich auch, dachte er und ging.

    * * *

    Während draußen der Tag die Versprechungen des frühen Morgens wahr macht, dröhnt drinnen eine sonore Pastorenstimme durch die Essdiele und vermischt sich mit der guten Laune von HR 3 in der Küche. Kerstin steht am Herd, und ihre Mutter hört die Aufzeichnung des gestrigen Gottesdienstes, in einer Lautstärke, als gälte es das Evangelium dem gesamten Rehsteig zu verkünden. In den nächsten Tagen wird sie die Kassette auch noch ein zweites, drittes und viertes Mal hören, bevor Kerstin sie schließlich am nächsten Sonntagabend ins Gemeindehaus zurückbringt und gegen eine neue eintauscht. Die Gebete und Lieder begleitet Liese Werner mit lauter Stimme, während sie auf ihrem Sessel am Fenster sitzt, die Beine ausgestreckt über einen zweiten Stuhl, mit geschlossenen Augen. Kerstin hat es ein paar Mal beobachtet und nicht gewusst, ob der Anblick sie rührt oder ihr unheimlich ist.
    Als die Orgel wieder einsetzt, stellt Kerstin das Salatsieb in die Spüle und dreht das Radio eine Spur lauter. Trotz des gekippten Fensters hängt in der Küche ein unangenehmer Dunst. Fast eine Viertelstunde hat sie gebraucht, um die Scherben und den Inhalt des Champignonglases einzusammeln und die letzten Stücke – farblich dem Linoleum angepasst – zwischen den Küchenmöbeln aufzufischen. Jetzt wird es Hühnerbrustfilets in Zwiebeln und Sahnesauce und ohne weitere Zutaten geben. Dafür mehr Nudeln. Kerstin wäscht die Fleischstücke und bekommt wie immer Gänsehaut von dem glatten, kalten Gefühl an den Fingern.
    In

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