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Grenzgang

Grenzgang

Titel: Grenzgang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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der sei ihm wahrscheinlich ›aus anderen Zusammenhängen‹ bekannt), aber für sie war es entwürdigender Ernst. Eine gewalttätige Entblößung, als hätte ihr jemand hinterrücks die Kleider vom Leib gerissen vor einer Horde betrunkener Matrosen. Sie ist sofort Richtung Ausgang verschwunden, die Arme um den Oberkörper geschlungen, den Kopf gebeugt, und er ist immer noch überrascht, wie genau er nachempfinden kann, was sie jetzt fühlt: hässliche, nagende Scham. Ein ewiger schlechter Geschmack auf der Zunge, der vergebliche, verrücktmachende Wunsch, das Geschehene ungeschehen zu machen. Und etwas, das er alleine lindern könnte, wenn er nur den Hauch einer Ahnung hätte wie.
    Weidmann nimmt die Hände hoch und sieht deren Abdruck auf der Tischplatte beim Verschwinden zu. Wie? Er hat sich das schon dort hinter der Yucca-Palme gefragt, als er Karin Preiss aus den hinteren Räumen kommen und verwirrt am Träger ihres Kleides nesteln sah. Und nachdem auch die zweite Bergenstädterin aus der Tür verschwunden war, hat er zu Viktoria nicht mehr gesagt als ›Schreib mir nicht mehr!‹ und ist ebenfalls gegangen.
    Mit einem Ruck steht er auf und öffnet die Tür, aber aus dem leeren Flur glotzt ihm nur das formlose Schimmern desDeckenlichts in den Bodenkacheln entgegen. Zurück am Fenster, glaubt er die Frontpartie des Polo zwischen den Bäumen ausmachen zu können. Soll er nach draußen gehen und sie heraufbitten? Genau genommen weiß er nämlich sehr gut, wie er ihr helfen kann, und kennt in- und auswendig die Worte, die dazu nötig sind, schließlich hat er sie die ganze Woche in jeder freien Minute vor sich hin gemurmelt. Sie würden ihm auch keine Verstellung abverlangen, er versteht wirklich , was in ihr vorgeht. Das Seltsame ist: Er weiß nicht, ob er ihr gegenüber zu dieser Nicht-Verstellung fähig ist. Über Jahre hinweg hat er die Fähigkeit perfektioniert, sich nicht zu verlieben, sondern neugierig zu sein. Aufmerksam, sprungbereit und unsentimental. Ohne Stolz übrigens und mit nicht mehr Jagdinstinkt als unbedingt nötig, aber so wie alle Männer ist er davon ausgegangen, dass die Weinkellerkönigin seiner einsamen Phantasien, falls sie ihm eines Tages begegnen sollte, von der Art sein und ihn auf die Art packen würde, die das Spiel verlangt: Eine Gespielin, die ihm das süße Gift ihrer Reize einflößt und mit einem Lächeln zusieht, wie es seine Wirkung entfaltet. Eine Frau, die so ist, wie diese Viktoria glaubt zu sein. Mit anderen Worten, er hat den Reiz des Spiels gerade darin gesehen, dass es in einem eng begrenzten Feld ausgetragen wird und von der Gefahr der Übertretung durchsetzt ist. Aber diese Grenze hat er vor sich vermutet, eine sichtbare oder zumindest instinktiv wahrnehmbare Linie; so dass er, was jetzt geschehen ist, nur als Überrumpelung empfinden kann.
    Warum sie? Seit einigen Tagen beobachtet er sich dabei, wie er seinem Badezimmerspiegel Fragen stellt, die nur einem Trottel einfallen.
    Weil sie eine attraktive, kluge und auf ihre Weise lebenslustige Frau ist – und Antworten zu geben, für die nur ein Volltrottel sich nicht schämen würde.
    All die Jahre hat er sich eingeredet, ein Spieler zu sein, und um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: die Veilchenwaren Spiel, weiter nichts. Und jetzt sieht er zu, wie Kerstin Werner ihm diese Schlinge um den Hals legt, als ob er vorhätte, auf seine alten Tage zum Kleinstadt-Kantianer zu mutieren: Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit als Prinzip einer langweiligen Ehe gelten könne.
    Lächerlich, ja. Aber die Frage lautet: Hat sie ihn überrumpelt oder hat er die ganze Zeit über mit demütig gesenktem Kopf dagestanden und nur auf die Schlinge gewartet?
    Als es an der Tür klopft, erschrickt er nicht, sondern nickt in das leere Klassenzimmer, als stünden darin Zuschauer in Erwartung einer Darbietung. Wahrscheinlich ist sie über den hinteren Schulhof gegangen. Was immer sie von ihm will, sie geht umsichtig vor. Und er lehnt mit verschränkten Armen an der Fensterbank und sagt nicht Herein, sondern starrt stumm Richtung Tür. Schicksal ist eines dieser Worte, die sich gut denken lassen, wenn alles zu spät ist. Die dann plötzlich versöhnlich klingen, als würde jeder Abgrund in dem Moment dein Freund, da du darin verschwindest.
    Granitzny steckt seinen Elefantenkopf durch den Türspalt, dreht ihn nach links und rechts, bevor er Weidmann entdeckt und sagt:
    »Zwei.«
    »Zwei was?« Er ist überrascht, wie

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