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Grenzgang

Grenzgang

Titel: Grenzgang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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ungerührt seine Stimme klingt. Nur in den Armbeugen fühlt er Schweiß durch sein Hemd sickern.
    »Mohikaner. Sie und ich. Sonst ist keiner mehr da.«
    »Es kam mir die ganze Zeit schon verdächtig ruhig vor.«
    »Alle weg.«
    »Sie sind aber, wenn ich das sagen darf, zu klug und kennen Ihre Pappenheimer zu gut, um das nicht erwartet zu haben.«
    »Ein Lob aus berufenem Munde.« Granitzny kommt herein und nimmt auf einem Tisch in der ersten Reihe Platz. Die Hände stützt er neben sich ab, als fürchte er, dass andernfalls die Platte in der Mitte nachgeben könnte. Sein Gesicht lässt in der Tat keine Überraschung erkennen, sondern ein heimlichesVergnügen, als hätte er jemandem einen Streich gespielt, der das aber noch nicht weiß.
    »Worauf warten Sie noch?«, fragt er. »Mögen Sie kein Fußball?«
    »Das Ende schau ich mir zu Hause an.«
    Dann schweigen sie einen Moment. Granitzny sieht zur Tafel, und Weidmann glaubt zwischen den Blättern der Bäume einen Ellbogen im Seitenfenster des Polo zu sehen, aber sicher ist er sich nicht. Auch nicht, ob er hofft oder fürchtet, ihr beim Verlassen des Gebäudes zu begegnen. Vorerst ist er nicht unfroh über die Gesellschaft des Schulleiters, der wie ein gelangweiltes Kind auf dem Tisch sitzt und die Backen hängen lässt. Seine Waden sind zu massiv, als dass man die Bewegung seiner Beine als baumeln bezeichnen könnte.
    »Ende des nächsten Schuljahres brauchen wir einen neuen Stellvertretenden Schulleiter.«
    »Und?«
    »Und – Interesse?«
    »Nein.«
    »Hab ich mir gedacht.« Granitzny nimmt ein Exemplar des Petit Prince in die Hand, das ein Schüler unter dem Pult vergessen hat. Zum ersten Mal, soweit er sich erinnern kann, empfindet Weidmann nicht nur den Gesichtsausdruck, sondern die gesamte Körperhaltung des Rektors als Abbild einer seltsam profunden, über alle Trostversuche erhabenen Traurigkeit. »On ne sait jamais oder so ähnlich sagt der Kerl hier immer, richtig?«
    »Ich habe wirklich kein Interesse an dem Amt.«
    »Und das Fußballspiel? Ich hab einen Fernseher in mein Büro gestellt.«
    »Sie interessieren sich für Fußball?«
    »Nein. Aber diese WM ist ein gesellschaftliches Ereignis, ein nationaler Grenzgang sozusagen. Man interessiert sich nicht dafür, man ist einfach dabei.«
    »Verstehe.«
    Granitznys Blick folgt ihm, als er zum Pult geht und beginnt, seine Sachen zusammenzupacken.
    »Haben Sie in Ihrem Büro auch was zu trinken?«
    »Cognac.«
    Er denkt an Kerstin Werner unten im Auto und hat das dringende Bedürfnis, sich der stummen Aufforderung, die von ihrer Anwesenheit ausgeht, zu widersetzen. Es ist kein Spiel diesmal, und es lässt sich auch nicht zu einem machen, aber das heißt nicht, dass er aufhören sollte, überlegt und selbstbestimmt zu handeln. Man kann auch ein Nicht-Spiel verlieren. Und dieser selbstlosen Zärtlichkeit, mit der er seit einer Woche an sie denkt, einfach nachzugeben erscheint ihm einen luziden Moment lang als der direkte Weg in etwas, woraus er schnell mit einem Gefühl tiefer Reue erwachen wird.
    »Warum verbringen Sie eigentlich Ihr halbes Leben in der Schule?«, fragt er. »Ich rede jetzt nicht von der Arbeit, sondern von all den Wochenenden und dem Liegestuhl in Ihrem Büro und dem Cognac und …«
    »Warum verbringen Sie Ihr halbes Leben in Bergenstadt?«, fällt Granitzny ihm ins Wort, nicht schneidend, sondern so bedächtig, als wische er eine dumme Schülerzeichnung von der Tafel, ohne sich um das Gekritzel zu scheren.
    Weidmann nickt. Es tut immer gut zu spüren, wenn der eigene Unwille, sich und sein Leben zu erklären, auf Gegenseitigkeit beruht. Er lässt den letzten Stoß Notizen in seiner Schultasche verschwinden; die Ledertasche, die Konstanze ihm zur Promotion geschenkt hat.
    »Ist es denn guter Cognac?«
    »Es ist das, was man hier in der Gegend bekommt. Reicht Ihnen das?«
    »Unbedingt«, sagt er und nimmt die Tasche unter den Arm. Der Trageriemen ist vor drei oder vier Jahren gerissen und seitdem nimmt er sich vor, ihn erneuern zu lassen, obwohl er genau weiß, dass er nicht an der Tasche, sondern an ihrer Kaputtheit hängt. »Alles andere wäre viel zu viel.«

    * * *

    Es ist das erste Mal, dass sie ein Fußballspiel im Auto hört. Mit dem Blick über die Lahnwiesen, in denen die Luft flimmert und die Pappeln am Fluss aussehen lässt wie Palmen, die ein Verdurstender in der Wüste sieht: nicht im Boden verwurzelt, sondern in die flüssige Luft gemalt, in entfernungsloser Distanz. Argentinien

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