Grenzgang
wieder einmal versucht ihre Gedanken zu ordnen.
Dann gibt sie sich einen Ruck, schaltet das Radio aus und ihr Handy an. Wenigstens muss sie sich vergewissern, dass sie auf dem neuesten Stand ist in Sachen Daniel. Denn um den geht es, nicht um die lächerlichen Eskapaden seiner Mutter und seines Klassenlehrers. Sie hat sich vorgenommen, so geschäftsmäßig wie möglich aufzutreten, nicht abweisend, aber ohne Zerknirschung. Souverän, wenn möglich. Viel zu lange schon hat sie das alles schleifen lassen in der Hoffnung, diese hässliche Geschichte werde von selbst verschwinden, einfach zur Episode werden und …
»Bamberger.« Im Hintergrund hört sie das Rauschen des Stadions, das bis gerade eben ihr Auto gefüllt hat. Augenblicklich weiß sie nicht mehr, wie ausgerechnet Jürgen ihr helfen soll, sich auf das Gespräch mit Thomas Weidmann vorzubereiten.
»Ich bin’s.«
Prompt verschwindet das Rauschen. Er lässt sich nie etwas anmerken, wenn sie anruft. Sie weiß genau, wo er sitzt und wo der Fernseher steht im Wohnzimmer am Hainköppel. Horcht auf das kurze Schweigen, in dem er sich wahrscheinlich zu seiner jungen Frau umdreht, auf den Hörer deutet und die Augenverzieht: die Nervensäge. Sie horcht auf ein Lachen oder Schnauben im Hintergrund, aber da ist nichts. Am liebsten würde sie sofort wieder auflegen. Stattdessen sagt sie:
»Ich bin an der Schule und wollte mit Daniels Klassenlehrer sprechen. Aber da unser Sohn mir bisher nicht verraten hat, wie das Gespräch bei Endlers war und was sich in der Schule getan hat seitdem …«
»Ich war heute beim Elternsprechtag.« Er weiß genau, dass er sie damit überrascht.
»Du warst beim Sprechtag.«
»Vonseiten der Schule ist die Sache im Prinzip erledigt, hat der Klassenlehrer mir versichert. Granitzny hat sich die drei Delinquenten zur Brust genommen und geht davon aus, dass sie solche Dummheiten künftig unterlassen. Jetzt liegt’s an Daniel – und an uns –, dafür zu sorgen, dass das in seinem Fall auch stimmt.«
»Hat der Klassenlehrer gesagt.«
»Der letzte Satz war von mir.«
»Wie war’s bei Endlers?«
»Unangenehm. Aber er hat sich entschuldigt. Er hat gesagt, er weiß selbst nicht, warum er das gemacht hat. Dass er sich hat hinreißen lassen. Als Erklärung ist das nicht sonderlich überzeugend, aber es kam mir auch nicht gelogen vor.« Jürgens Stimme verrät, dass er nur mit halber Aufmerksamkeit spricht und mit den Augen weiterhin dem Spiel folgt. Er fühlt sich wohl in seinem Wohnzimmer, von allem Ungemach der Welt durch feste Mauern geschützt, in sich ruhend. »Mit sechzehn ist man sich selbst wahrscheinlich nicht unbedingt transparent.«
»Und Endlers?«
»Kerstin, das Gespräch war vor einem Monat. Ich glaube, sie hätten es gut gefunden, wenn du dich bei ihnen gemeldet hättest, aber offenbar ist das nicht geschehen. Jetzt ist die Sache vorbei, was willst du noch?«
»Verstehen, was passiert ist.«
»Das fällt dir spät ein.«
»Ich hatte in letzter Zeit noch andere Dinge zu tun. Vielleicht hat Daniel dir erzählt, dass meine Mutter im Krankenhaus liegt?«
Zwei Sekunden braucht er, um seinen Tonfall auf Mitgefühl und Schonung zu stellen.
»Das tut mir leid zu hören. Was hat sie?«
Sie erzählt es ihm in wenigen Worten, während sie den Hausmeister mit schlurfenden Schritten über den Schulhof gehen sieht. Es tut nicht gut zu wissen, dass es guttut, mit ihm zu sprechen, aber was soll sie machen? Daniel hat sich die ganze Woche nicht sonderlich interessiert für den Gesundheitszustand seiner Großmutter, und mit Karin Preiss wollte sie nicht sprechen. Auf die ist sie sauer. Sie einfach in diesen verdammten Club zu schleppen!
Halb sechs zeigt die Uhr am Armaturenbrett. Die Sonne nähert sich allmählich den Baumspitzen über dem Rehsteig.
»Mit anderen Worten: Es sieht nicht gut aus«, sagt sie. Der Hausmeister hat die Eingangstüren erreicht und tritt mit der Ferse auf die Stopper am Boden. So viel zum Thema Elternsprechtag.
»Wär’s in so einem Fall nicht besser, sie nach Marburg zu geben? Wenn die Ärzte in Bergenstadt nichts rausfinden.«
»Sie wollen noch ein anderes CT machen. Wegen der Kopfschmerzen.«
»Ist deine Mutter privat versichert?«
»Nein.«
»Trotzdem könntest du …«
»Jürgen, vielen Dank, aber ich komme zurecht. Außerdem ist Hans ja auch noch da.«
»Hans«, sagt er, und sie weiß, welches Gesicht er dabei macht. Eine merkwürdige Reminiszenz an vergangene Zeiten, als sie noch gemeinsam
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