Grenzgang
›Ehe‹ und dass das Verlangen nach einer Umarmung sich mit dem Impuls vertrug, ihm in den Schritt zu fassen und zu sagen: Wickel ihn oder ich drück zu. Ganz ähnlich der Verwunderung früher im Biologieunterricht darüber, dass es gewissen Bakterien möglich war, sich zu Hunderttausenden auf einer Messerspitze zu tummeln. Es war ein stiller Kampf mit den Augen, und diesmal gewann sie ihn. Er murmelte etwas von fünfundzwanzig Litern, die ihn das Nicht-Erscheinen auf dem Marktplatz kosten würde, dann hob er Daniel aus seinem Stuhl, und während Kerstin den Tisch abräumte, hörte sie die beiden im Garten toben. Ein Wettrennen offenbar, das der jüngere derbeiden Bambergers um Haaresbreite gewann. Sie räumte Tupperdosen in den Kühlschrank und schüttelte den Kopf: Helden – standen wie Statuen auf dem Sockel ihrer Männlichkeit und starrten erwartungsvoll Richtung Horizont, während zu ihren Füßen sich Wunder an Wunder reihte, aber wenn man sie drauf aufmerksam machen wollte, zischten sie einem ein genervtes Psst! entgegen, aus lauter Angst, was zu verpassen.
Dass ihre Mutter sich unterdessen endlich in einem der Wohnzimmersessel niedergelassen hatte, schloss Kerstin aus dem lauten Schnarchen, das von dort in die Küche drang. Es wäre besser, den Abend zu Hause zu verbringen. Im Fernsehen kam Wetten dass …? , genau die richtige Mischung aus Ablenkung und langweiligen Showeinlagen, um ein paar ernste Worte zu wechseln, ohne befürchten zu müssen, dass alles in einem Weinkrampf endete. Sie machte sich selbst Sorgen um ihren Vater. Sie hatte bloß nicht viel Zeit, an ihn zu denken.
Eine Weile stand sie am Küchenfenster und sah Jürgen und Daniel beim Toben zu, dann nahm sie das drahtlose Telefon und ging hoch ins Bad. Ihre und Jürgens Sachen reihten sich auf dem Bord unter dem Spiegel, die bunte Vielfalt weiblicher und die bündige Beschränkung männlicher Hygieneartikel: Rasierpinsel, Klinge, Schaum, Aftershave. Ein Deo-Roller. Immer lag was auf dem Boden und verhinderte den Eindruck steriler Funktionalität. Ein Familienbad, größenmäßig überfordert von dem würfelförmigen Wickeltisch mit seinen drei Schubladen, auf dessen Liegefläche sich immer ein paar Handtücher stapelten, die man auf den Boden wischen musste, um Daniel darauf zu platzieren. Im offenen Bademantel stand Kerstin vor dem Spiegel und bedauerte, dass keine zeitaufwendigere Pflege anstand, sie hätte sich gerne die Waden epiliert oder die Fußnägel lackiert, aus purer Freude an ihrem Aufenthalt im Badezimmer, in das demnächst Jürgen und Daniel platzen würden, um auf charmanteste Weise ihren Frieden zu stören.
Angesichts der Rustikalität der Bergenstädter Feierlichkeiten beschränkte sie ihre Kosmetik auf das Notwendigste undhatte sich gerade dezent die Lippen nachgezogen, als das Telefon klingelte.
»Bin demnächst so weit«, sagte sie zur Begrüßung. »Ich will nur Daniel ins Bett bringen, bevor wir losgehen. Meine Mutter ist ein bisschen überfordert.«
»Sag, ist dir eigentlich gar nicht langweilig?« Im Hintergrund spielten The Cure , wenn sie sich nicht täuschte. Anita hatte eine Art, sich in Stimmungen hineinzusteigern, die ebenso unangenehm wie ansteckend war. »Dieser elende Grenzgang. Die ständig gleichen Gesichter. Ich bin seit drei Tagen hier und …« Ein künstliches Gähnen beendete den Satz.
Am liebsten hätte Kerstin erwidert, dass der Grund ihrer Langeweile nicht in Bergenstadt, sondern in ihrem, Anitas, eigenem Kopf lag. Stattdessen sagte sie:
»Ist der letzte Tag heute, den wirst du auch noch rumkriegen. Wann fährst du wieder?«
»Sobald ich morgen wieder nüchtern bin.«
»So schnell.« Mittwochabend zum Kommers war Anita angereist, und seitdem hatten sie zwar viel Zeit zusammen verbracht, aber dabei mehr gesungen als geredet. An den Hainköppel war Anita kein einziges Mal gekommen und hatte ein für Daniel mitgebrachtes Geschenk zwar erwähnt, aber keine Anstalten gemacht, es ihm auch zu überbringen. Kleine Risse in der erprobten Kampfgemeinschaft zeichneten sich ab. Anitas Ansicht lautete: Heiraten notfalls okay, Kinderkriegen geradeso in Ordnung. Aber nach Bergenstadt ziehen? Hier ein Haus bauen? Von Anfang an hatte sie Kerstin nicht abgenommen, dass das nur ein erster Schritt war, der sich aus vernünftigen pragmatischen Erwägungen ergab und keineswegs bedeutete, dass sie und Jürgen in diesem Kaff alt werden wollten.
»Bist du noch dran?«, fragte Anita.
»Ich weiß nicht, was ich
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