Grenzgang
anziehen soll. Schick oder lieber nicht so schick?«
»Auf jeden Fall züchtig als junge Mutter. Reicht ja, wenn einer weiß, was für Beine die Gattin hat.« Anita konnte, wenn siewollte, ausgesprochen gemein sein. Da kennst du deinen Mann aber schlecht, war alles, was sie zu den pragmatischen Erwägungen gesagt hatte.
»Wie finden wir uns später im Zelt? Oder soll ich einfach dahin gehen, wo ein paar Männer einen Kreis bilden?«
»Wenn in Bergenstadt Männer einen Kreis bilden, steht in der Mitte keine Frau, sondern ein Bierfass.«
»Wobei hier die Form ja häufig ähnlich ist«, sagte sie, aber es machte keinen Spaß, auf Anitas Bosheiten einzugehen, wenn diese sich zum Teil gegen sie selbst richteten. »Wo also? Stehst du beim Rehsteig?«
»Wahrscheinlich. Notfalls weiß ich ja, wo ich dich finde.«
»Dann bis später.« Ein weiteres kleines Absacken ihrer Stimmung. Sie ging ins Schlafzimmer, um sich einen kürzeren Rock aus dem Schrank zu holen. Unschlüssig drehte sie sich vor dem Spiegel, war zufrieden mit ihrem Anblick und fühlte sich trotzdem nackt. Die Bettdecke lag sorgfältig ausgebreitet über der Matratze. Noch einmal drehte sie sich in der Hüfte und fand, dass ihre Beine sich überhaupt nicht verändert hatten, es war nur ihre elende Schwäche von früher: Egal wie absurd die Bedenken waren, mit denen andere sie konfrontierten, sie machte sie sofort zu ihren eigenen. Dabei hatte sie sich entschieden für dieses Leben, und wenn Anita das nicht akzeptieren und ihre eigene Matratzentingelei fortsetzen wollte, dann konnte sie es auch nicht ändern.
Andere Freundinnen hatte sie jedenfalls nicht.
Und dieser Rock saß perfekt!
Jürgens Augenbrauen machten eine Bewegung nach oben, als sie zurück ins Bad kam. Daniel lag auf dem Rücken und strampelte mit den Beinen. Es roch nach Babyöl und einem Hauch von Kinderkacke, und sie stellte sich hinter ihren Mann und schlang die Arme um seinen Brustkorb. Wünschte sich, er wäre ein paar Zentimeter größer als sie.
»Müde?«, fragte er.
»Hm-m.« Sie schloss die Augen und spürte die Bewegungenseiner Arme. Was sollte daran falsch sein? Aber hatte überhaupt jemand behauptet, es sei was falsch daran? Anita stichelte bloß, das hatte sie schon immer gerne getan, weil sie sich im tiefsten Inneren ihres Herzens wahrscheinlich genau das gleiche Leben wünschte. Sie gab es bloß nicht zu.
»So, kleiner Mann, die neue Windel zieht dir deine hübsche Mama an, denn für mich wird’s jetzt leider höchste Zeit.« Er löste sich aus der Umarmung, stand in der Mitte des Badezimmers, eine zusammengerollte Windel in der Hand, und sie musste ihn mit den Augen zum Standort des Mülleimers dirigieren.
»Ich dachte, wir gehen zusammen«, sagte sie.
»Wenn ich mich beeile, schaff ich’s gerade noch. Kerstin, ich kann da nicht einfach wegbleiben. Morgen ist es vorbei.« Er unterzog seine Finger einem Schnuppertest. Zwang sie mit einem Lächeln dazu, entweder nachzugeben oder einen völlig unnötigen Streit vom Zaun zu brechen. Sein Zeigefinger fuhr ihren Hals hinab, machte einen Schlenker über ihre linke Brust, dann die rechte – eine Zärtlichkeit, die ihr ebenfalls unnötig erschien, wo er doch im Geist bereits zur Tür hinaus war. »Wir sehen uns später im Zelt.«
»Sagst du deinem Sohn noch Gute Nacht?« Sie sah ihm zu dabei, wie er Daniels kleine Füße gegen seine aufgeplusterten Backen hielt und die Luft mit einem lauten Furzgeräusch entweichen ließ und sich genau in dem Moment wieder abwandte, als Daniel das Spiel verstanden hatte und auf eine Wiederholung wartete.
»Also dann.«
Für den Abschied von ihr nahm er sich mehr Zeit, aber sie ignorierte seine Zungenspitze und die Hände an ihrem Rocksaum und sagte:
»Bis später.« Dann war nur noch sein Rasierwasser im Bad, und Daniel blies selbst die Backen auf, aber seine Füße rutschten ab, als er sie gegen sein Gesicht pressen wollte. So wurde, was ein lustiger Furz hätte werden sollen, zu einem lauten Seufzer.
* * *
Er steht am Fenster und hört, wie Stille sich in den Gängen des Schulgebäudes breitmacht. Seit zehn Uhr am Morgen hat die summende Betriebsamkeit des Sprechtages in den Fluren gehangen, sind Grüße getauscht und Abschiede gerufen worden, und er hat knapp drei Dutzend Eltern über die schulischen Leistungen und notwendigenfalls über die sozialen Defizite ihrer Kinder informiert. Jetzt endlich senkt sich Stille über die Schule wie ein höherer Gnadenakt. Nur noch
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