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Grenzgang

Grenzgang

Titel: Grenzgang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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vereinzelte, eilige Schritte hallen durch die Gänge. Klassenzimmer werden abgeschlossen. Granitzny hat Anwesenheitspflicht bis achtzehn Uhr verhängt, aber jemandem ist es gelungen, ihn davon zu überzeugen, seine eigene Sprechstunde nicht im Büro des Schulleiters, sondern im Klassenraum der siebten Klasse abzuhalten, in der Granitzny Deutsch unterrichtet, und dieser Raum geht auf den rückwärtigen Hof. Also sitzt Granitzny jetzt da hinten seine eigene Anwesenheitspflicht ab, während die Kollegen sich nach vorne aus dem Gebäude stehlen wie Internatsschüler in der Nacht: mit schnellen Schritten und eingezogenem Nacken und weil nach fünf Uhr sowieso keine Eltern mehr wissen wollen, wie ihr Nachwuchs sich im Unterricht anstellt. Nicht, wenn Deutschland gegen Argentinien spielt. Nur Weidmann hat die Arme hinter dem Rücken und beobachtet das einzige Auto, das gegen den Strom der flüchtenden Fußballfans aufs Schulgelände rollt, um hinter den Bäumen bei den Fahrradständern einzuparken.
    Bergenstadt liegt im langsam sinkenden Licht, der Sonne genau gegenüber. Der Schlossberg glänzt. In den Gärten hängen Fahnen in drei Farben und verbreiten die knisternde Erotik neudeutscher Normalität. Weidmann steht ruhiger, als er sich fühlt. Zwar hat er sie nicht erkannt, aber er weiß trotzdem, wessen Auto das ist, dort unter den Bäumen. Ein Polo ohne Deutschlandfahne auf dem Dach. Wahrscheinlich hat sie sich absichtlich diese Uhrzeit ausgesucht, im Wissen, dass sie auf dem Weg durch die Schule kaum mehr jemandem begegnen wird. Er geht zum Pult, stellt ein paar Stühle an ihren Platz zurück und gießt sichden letzten Schluck Kaffee in seinen schon klebrigen Becher mit dem Schriftzug der Pennsylvania State University . Langsam lässt er den Blick über die Posterwand am gegenüberliegenden Raumende gleiten, über die Horde beklunkerter, muskelbepackter Zuhältergestalten mit den zu großen Hosen und schief sitzenden Mützen und über die Bikinihäschen mit offenen Mündern. Den Sechzehnjährigen, die das attraktiv finden, versucht er Saint-Exupéry nahezubringen. Das ist sein Job.
    Mit beiden Händen flach auf dem Pult nimmt er Platz vor den leeren Tisch- und Stuhlreihen. Spürt die Feuchtigkeit seiner Fingerspitzen. Keine Schritte und keine Stimmen mehr in den Gängen, nur in seinem Kopf hört er weiterhin das vielkehlige Summen, das kein Geräusch ist, sondern der Schatten von sieben Jahren Arbeit in diesem Gebäude. Sie wartet dort unten im Auto und er hier. Entweder wird sie raufkommen oder er runtergehen. Und dann – die Parodie eines Elterngesprächs? Ein bemühtes Als ob es das letzte Wochenende nicht gegeben hätte und sie beide bei dem Wort ›Bohème‹ zuerst an das Schwabing der zwanziger Jahre denken würden? Oder wird sie ihn überraschen, all ihren Mut zusammennehmen und ihn direkt ansprechen auf die Begegnung im Club?
    Ihren Exmann hat er schon gesprochen heute und dabei beständig an den vergangenen Samstagabend denken müssen, an den spitzen Schrei, die Panik in ihren Augen und die überstürzte Flucht, während er zu allem nickte, was Jürgen Bamberger zum Thema Verantwortung glaubte sagen zu müssen, auch seinem Sohn bereits gesagt hatte und der versammelten Familie Endler ebenfalls. Einstudiert wie ein Plädoyer vor Gericht. Offenbar ist er nur in die Schule gekommen, um zu vermelden, dass er seine Lektion gelernt hat, ansonsten schien er davon auszugehen, das übertrage sich dann automatisch auf die Nachkommen. Ein Gespräch im ›Du‹ von früher, das mittlerweile gezwungen klang und natürlich nichts änderte an der Tatsache, dass sie einander nie gemocht haben. Mit einem resoluten ›Schön, Jürgen!‹ ist Weidmann ihm schließlich ins Wort gefallen und hat gefragt,ob er denn auch etwas wissen wolle zu Daniels schulischen Leistungen.
    Es spricht nicht für Kerstin Werner, findet er, dass sie den mal geheiratet hat.
    Aber ihren Blick kann er trotzdem nicht vergessen. Obwohl ihm unwohl ist bei dem Gedanken, gesehen worden zu sein in seinem lächerlichen Aufzug, das Hemd offen über der Brust, im Plastikcharme dieses schummrigen Partykellers – am peinigendsten ist die Erinnerung an diesen Blick, mit dem Kerstin Werner aus dem unglücklichen Zufall ihrer Begegnung etwas gemacht hat, das ihr von ihm angetan wurde. Wider Willen, aber unwiderruflich. Für ihn war es ein Spiel, wenn auch ein fades nach dem ersten Handschlag mit Viktoria (den Nachnamen hat sie ihm unter dem Hinweis verheimlicht,

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