Grenzgang
noch aus Studententagen. Wir lieben das Leben, die Liebe und die Lust, wir glauben an den lieben Gott und ha’m auch manchmal Durst. Ringsum entschlossen amüsierte Gesichter und klatschende Hände, während die Kapelle das Stück beendete und im ganzen Zelt Jubel aufbrandete. Am dritten Grenzgangsabend kannte die Begeisterung keine Grenzen. Die Musikanten wischten sich den Schweiß von der Stirn. Wer Bier kaufen wollte, musste sich mit erhobenen Armen durch die Gänge zwängen, aber die Gesellschaften hatten vorgesorgt: Kein Tischende, auf dem nicht ein Fässchen stand. Immer wieder ging La Ola durch die Menge, hin und her, und verwandelte das Innere des Zeltes in ein Wellenbad der Ausgelassenheit.
»Du hast ganz rote Backen«, sagte Jürgen heiser.
Sie spürte seine Hand auf ihrem Hintern und seinen Atem im Gesicht. Schweißperlen glänzten ihm auf der Stirn. Sie selbst hatte auch nicht wenig getrunken, ein paar Bier und zwischendurch dieses süße Zeug, das die Damenführer der Rheinstraße verteilten und dessen Geschmack ihr bei jedem Aufstoßen in die Kehle stieg. Ein Aroma aus Erdbeere und Alkohol. Irgendwann im Lauf des Abends war ihr Zeitgefühl abhandengekommen und die Müdigkeit der Wanderung aufgekratzter Benommenheit gewichen. »Jetzt geht’s lo-os!«, töntees aus der Ecke der Burschenschaften, als die Musiker sich wieder erhoben.
»Du auch«, sagte sie.
Ein Tusch erklang, die Menge applaudierte, und ein paar Tische weiter zog sich einer das T-Shirt aus und wirbelte es durch die Luft. Kerstin reckte sich und spähte in die gegenüberliegende Ecke des Zeltes, wo der Rehsteig sein Quartier hatte, aber zu viele Köpfe, Rücken und Hände versperrten die Sicht, sie konnte Anita nicht entdecken. Immer mehr Menschen drängten von draußen herein. Am letzten Grenzgangsabend strömten Besucher aus dem ganzen Landkreis nach Bergenstadt. Das Zelt kam ihr vor wie ein riesiger Kessel, in dem es langsam zu brodeln begann.
Vor einer Stunde waren Jürgen und sie Kettenkarussell gefahren, Hand in Hand wie verliebte Teenager, und seitdem saß ihr ein Summen in den Schläfen und ein Anflug von Übelkeit in der Kehle. Die Musik setzte wieder ein. Ihr gegenüber begann ein untersetzter bärtiger Mann, den alle Kalle Bienenkorb nannten, wie wild mit den Füßen zu stampfen. Ein paar Damen stießen spitze Schreie aus, als die Bank zu wackeln begann. Die Hände zum Himmel … Ganz langsam verlor sie den Kontakt zu ihrer Umwelt, zog sich zurück in den Wunsch nach frischer Luft und die Frage, ob Daniel durchschlief. Der erschöpfte Blick im Gesicht ihrer Mutter, beim Abschied an der Haustür, hatte ihr nicht gefallen. Sorge und Müdigkeit, die kurzen Absenzen, während sie in der Küche die alltäglichsten Verrichtungen machte, die plötzliche Leere der Augen. Dann malte sich das Wort ›Krebs‹ in die Falten auf ihrer Stirn; ein Wort, das selbst wie eingefaltet klang, ein kurzer, farbloser, von Konsonanten zerquetschter Vokal. Sie hatte ihrer Mutter angeboten, noch eine Stunde mit ihr im Wohnzimmer zu sitzen, bis sie sicher sein konnten, dass Daniel wirklich schlief, aber die hatte abgewinkt und ihr viel Spaß gewünscht, die Hände wie zum stillen Gebet gefaltet, noch während sie mit ihrer Tochter sprach. Die Hände zum Himmel … Kerstin hörte sich selbst mitsingen, hörteJürgens Bariton neben sich, blickte in die verzückten, verzerrten, begeisterten Gesichter ringsum, dann machten ihre Gedanken einen Sprung, und sie fragte sich, warum ihre Lust sie am Nachmittag mitten im Vorspiel verlassen hatte. Einfach so. Oder hatte sie selbst diesen Abbruch heraufbeschworen mit ihren unnötigen Grübeleien über Zufälle und doppelte Böden? Manchmal wurde ihr mulmig, wenn sie den Grad ihrer Abhängigkeit bedachte, wenn in den stillen Stunden von Daniels Mittagsschlaf die wilden Gesellen aus der Horde des Was-wäre-wenn-Clans sie heimsuchten. Kurze Attacken, die zwar keine bleibenden, aber immer wieder ärgerliche Verwüstungen anrichteten in ihrem Seelenhaushalt am Hainköppel. Schlechter Ersatz jedenfalls für die eigene Mittagsruhe.
Sie musste einen Moment frische Luft schnappen.
»Ich geh aufs Klo«, sagte sie ihrem Mann ins schwitzige Ohr.
Er zog sie zu sich heran, und für einen Moment schienen sie beide die Balance zu verlieren in der Umarmung, aber um sie herum standen die Leute so dicht auf den Bänken, dass keine Gefahr bestand zu fallen. Die Begeisterung eines kleinen Jungen glänzte in seinen Augen. Sie griff
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