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Grenzgang

Grenzgang

Titel: Grenzgang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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Karlshütte verlässt sie die Umgehungsstraße und nimmt die Abzweigung Richtung Sackpfeife. Ein Sägewerk, ein Weiher, dann sind es wieder nur Wiesen und Wälder, die sie auf ihrem Weg begleiten. Die ersten Rehe kommen aus dem Unterholz. Sie denkt an ihre Mutter, die im Krankenhaus an die Decke blickt. Woran denkt sie, dort in ihrem Bett? Was geht vor in einem Kopf, der sich allmählich von der Welt verabschiedet? Seit Monaten hat Liese Werner kaum noch von ihrem Mann gesprochen, dem in den ersten Jahren nach seinem Tod noch jede zweite Bemerkung galt. Jetzt kann Kerstin sich weder erinnern, wann der Name ihres Vaters zuletzt gefallen ist, noch, wann sie selbst zuletzt an ihn gedacht hat. Ihre Mutter hat sie früher mit einer einzigen Bemerkung über ihre Frisur oder die Länge ihres Rockes die Wände rauftreiben können, aber ihren Vater erinnert sie als einen sanften, großzügigen Mann, von dem sie nicht zu sagen weiß, was ihn mit ihr verbindet. Sie hat den zur Kleinlichkeit neigenden Charakter ihrer Mutter geerbt, und das ist kein Erbe, auf das sie stolz ist.
    »Die deutsche Mannschaft marschiert, aber sie bleibt aufmerksam in der Deckung«, sagt der Reporter. Dieser listige Kerl hat seine Augen überall.
    Schneller als erwartet erreicht sie die Abzweigung, wo ein weißer Pfeil zum Skigebiet Sackpfeife zeigt. Früher war sie mit Daniel zum Schlittenfahren dort oben, während Jürgen eine Runde auf der Loipe drehte. Und einmal hat sie die Superrutschbahn ausprobiert und sich vom hinter ihr gestarteten Sohn eine Trödelsuse schimpfen lassen. Nun folgt sie der schmalen Straße, die in serpentinenartigen Kurven hinaufführt, und blickt über die endlose Hügellandschaft, in die sich hierund da ein Dorf nestelt. In immer kürzeren Abständen sagt der Reporter die verbleibende Spielzeit an. Laub- und Nadelwald wechseln einander ab, und sie erinnert sich an den Anblick im Winter, wenn sich zu beiden Seiten der Straße die Schneewälle auftürmen. Dann eine letzte Kurve. Ein leeres Kassenwärterhäuschen steht neben einer offenen Schranke. Links der Frühstücksplatz des ersten Grenzgangstages, eine schattige Senke im Boden.
    Langsam fährt sie über die verwaiste Betonfläche. Der Sendemast reckt sich aus dem Wald in den Himmel, schlank, metallisch und in verblichenem Rot-Weiß.
    »Drei Minuten Nachspielzeit werden angezeigt.« Kerstin folgt dem schmaler werdenden Seitenarm des Parkplatzes, der zur Skipiste führt, und lässt den Wagen ausrollen, als sie die Bergstation des Sessellifts sieht. Kein Mensch weit und breit. Ohne das Radio auszuschalten, steigt sie aus. Die Luft ist kühler als unten bei der Schule, der Wind bläst beständiger und nimmt schon nach wenigen Schritten die Stimme des Reporters mit sich.
    Bis zum Rand der Piste geht sie, dann zieht sie die Schuhe aus und läuft barfuß weiter durch gelbliches Gras. Rechts geht es hinauf zum Lift und links den breiten Abhang hinab. Den Einstieg des Lifts kann sie nicht sehen, weil der Hang in der Mitte steiler wird, so dass der Blick Bodenhaftung verliert und über das Tal fliegt bis zur anderen Seite. Einzelne kahle Stellen klaffen im dichten Fichtenwald. Ein Fahrzeug glänzt in der Sonne, gehört wahrscheinlich den Waldarbeitern, die längst Feierabend gemacht haben, um das Spiel zu sehen. Keine Menschenseele, auch kein Geräusch, außer dem ihrer eigenen Schritte. Mit offenen Sicherheitsbügeln wippen die Liftsessel im Wind, sanft und beständig wie Elefantenköpfe im Zoo.
    Aus dem durchsichtigen Blau des Himmels ist eine Stahlfarbe geworden, und je ferner die Hügel sind, desto gleichmäßiger sehen die Wölbungen aus, wie Dünen. Kein Schrei aus Berlin dringt mehr an ihre Ohren. Sie steht in der Mitte der Skipiste und zieht die Schultern zurück.
    »Warum haben Sie mir Blumen gebracht?«
    Dann horcht sie auf das Pfeifen des Windes, der ihre Stimme verschluckt hat, im Vorbeigehen und als wollte er sagen: Mach dich nicht wichtig.

11
    Darin bestand wahrscheinlich der Spaß: auf Tischen und Bänken stehen und einfach mitsingen. So laut es ging. Da sind wir dabei … sich bei den Nachbarn unterhaken und allen in der Nähe zuprosten, zuwinken, zulachen … das ist pri-i-ma … zusammen mit fünftausend anderen und in dem Wissen, dass im zweiten Zelt nebenan noch einmal genauso viele auf Tischen und Bänken standen, deren Gesang zu hören war in den kurzen Liedpausen, wie das Echo der eigenen krachend guten Laune. Vivaaa Colooonia … Manche Lieder kannte sie

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