Grenzgang
Innehaltens vor dem Ankleiden. Zwei Sekunden, wie für einen Erinnerungsschnappschuss mit bloßem Auge: Was sie gerade getan hat, hätte sie vor einem Monat nicht getan. Das mag ein gutes oder schlechtes Zeichen sein, aber für den Moment fühlt es sich richtig an. Jetzt noch den Slip in die Handtasche, ein Aufschütteln der blonden Mähne, dann zieht sie die verbliebenen zwei Kleidungsstücke wieder an, schlüpft in ihre Sandalen, drückt auf die Klospülung und hat noch zehn Sekunden, um das Bad ohne Ablenkung in Augenschein zu nehmen.
›Dezent‹ wäre das Wort. Das Bad eines Mannes mit sachlich nüchterner Einstellung zu den hierin vorgenommenen Verrichtungen und folglich auch zu sich selbst. Bläuliche Kacheln, weiße Decke, saubere Armaturen. Zwei Sorten Shampoo in einer Ecke aus Wannenrand und Zimmerwand, und wie alle Männer benutzt er keinen Waschlappen – wohl aufgrund der Synonymität zu ›Schlappschwanz‹. Jedenfalls sieht sie keinen. Das Bad passt zu Thomas Weidmann, auch darin, dass es so wenig überihn verrät. Er ist weder eitel noch uneitel, weder extravagant noch gewöhnlich, weder selbstverliebt noch frei von der Neigung dazu. Der einen Frau bringt er Blumen, und mit der anderen trifft er sich in einem Bumsclub in Nieder-Enkbach. Darin liegt eine Stimmigkeit, die ihr aber in der Kürze des Augenblicks nicht greifbar ist. Ein Ausgleich von Gegensätzen vielleicht, auch der Gegensätze seiner Neigungen, und das Ergebnis ist eine von Spannungen durchzogene Kohärenz seiner Person: Er widerspricht seinem Charakter nicht mit dem, was er tut, aber er tut es gegen einen inneren Widerstand.
Sie beschließt, dass ihre Zeit abgelaufen ist. Fortan muss sie in seinem Gesicht zu lesen versuchen statt in der Ausstattung seines Badezimmers. Ihre Nervosität hat sie unter Kontrolle, und gleichzeitig erinnert sie die fehlende Unterwäsche an das Pikante ihrer Mission und daran, dass sie aus der Übung ist in allem, was den Umgang mit potenziellen Geschlechtspartnern betrifft. Im Gegensatz zu ihm vermutlich. Wenn sie seinen Blick richtig gedeutet hat, ist ihr mit dem schwarzen Kleid ein früher Treffer gelungen, eins zu null, im Jargon des Tages gesprochen, und jetzt muss Thomas Weidmann eben zeigen, was ein echter Gaucho ist.
Und sie muss endlich raus aus diesem Bad!
Ein allerletzter Kontrollblick, dann schlüpft sie in den Flur, der ihr dämmriger vorkommt als beim Betreten der Wohnung. Eine Garderobe mit wenigen Jacken und drei Paar Männerschuhen auf dem Boden. Sie blickt in die erste offene Tür: das Wohnzimmer mit den gedruckten Zeugen seiner Wissenschaftler-Vergangenheit auf langen Regalböden. Gegenüber die offene Tür des Balkons und Weidmanns Silhouette im flackernden Kerzenlicht. Es gefällt ihr, dass er sie dort draußen erwartet wie jemanden, der sich in der Wohnung auskennt. Anita, steh mir bei, denkt sie beim Gang durch sein Wohnzimmer, aber da ist bereits eine Spur Koketterie dabei. Es gibt Dinge, die verlernt man nicht. Das Zimmer riecht nach den Büchern, die es beherbergt, also nach Papier und einer Trockenheit, die mit Zeit zutun hat. Draußen hat sich unterdessen die Nacht vervollständigt. Laternen punktieren den Verlauf der Grünberger Straße. Der Balkon ist so klein, dass Weidmann aufstehen muss, um sie vorbeizulassen zu dem zweiten Stuhl auf der anderen Seite eines winzigen Campingtisches. Die Hand, die sie dorthin weist, stoppt ein paar Millimeter bevor sie sie über der Taille berührt hätte. Kerstin glaubt eine Verbindung zu spüren zwischen dieser Hand, der warmen Nachtluft und dem fehlenden Stück Stoff unter ihrem Kleid. Und glaubt gleichzeitig, einen inneren Sinn zurückzugewinnen, den sie früher beim Tanzen gespürt hat oder noch deutlicher nach dem Tanzen, eine Mischung aus Elastizität und Kraft. Dass ihr Körper ihr gehört und gehorcht. Dass es die richtigen Signale sind, die er aussendet, und die richtigen Reflexe, nach denen er arbeitet. Ein willkommenes Gefühl in diesem Augenblick der Stille, den Weidmann erst beendet, nachdem sie beide Platz genommen haben.
»Mögen Sie Riesling? Ich hoffe ja.«
»Gerne.«
Ein nackter Balkon aus Beton, keine Pflanzen. Eine gemauerte und verputzte Balustrade, ein Regenabfluss im Boden. Das Ambiente erinnert sie an ihre Studentenzeit, an billigen Wein aus Bechern mit Henkel und Gespräche im Futur. Weidmanns Gläser allerdings haben die schlanke Tulpenform, aus denen Weißwein getrunken werden will, und was ihr in den Rachen
Weitere Kostenlose Bücher