Grenzgang
anderen Seite Weiden, Wiesen und endloser Wald. Er folgt dem Weg über die Rehsteighütte hinaus, wo er leicht anzusteigen beginnt und kurviger wird. Lange Buchenstämme liegen im Graben, frisch geschlagen und noch hell an den Schnittstellen. Nur das Geräusch seiner Schritte auf dem Boden hört er, Blätterrascheln und das dumpfe Rauschen der Straße im Tal. Dann erreicht er einen sternförmigen Zusammenschluss von Wegen, bleibt stehen und sieht sich um im grünlichen Blätterschatten. Immer noch ist es früh am Tag, gerade zwei Uhr durch. Zu Hause erwarten ihn weder Arbeit noch Gesellschaft, und obwohl er eigentlich nur einen Spaziergang hat machen wollen, beschließt er jetzt, den ganzen Nachmittag zu wandern. Er hat das Gefühl, dass jeder Schritt weg von seiner Wohnung ein Schritt in die richtige Richtung ist. Das Tal links des Weges steigt an und läuft wie sein Weg auf jene Kuppe zu, wo er die Bundesstraße überqueren muss, um einem überwucherten Pfad zu folgen, der ihn zum Fuß der Skipiste führen wird. Hier und da wilde Himbeeren und ansonsten viel Chlorophyll, das er im Gehen zur Seite streicht in der Hoffnung, sich keine Zecken einzuhandeln.
Wo der Weg nicht unter Bäumen entlangführt, trifft ihn die Sonne mit klebriger Intensität. Insekten stehen summend in der Luft, in merkwürdigen Konfigurationen. Sein Schweiß lockt Fliegen an. Je höher er steigt, desto üppiger wuchern die Pflanzen, verschwindet der Pfad unter Unkraut und hohem Gras. Zweimal glaubt Weidmann, von seinem Weg abgekommen zu sein, aber unter den Bäumen findet er die ausgetretene Spur im Boden wieder. Aus der sommerlichen Wanderung wird ein angestrengtes Stapfen im unübersichtlichen Gelände seinereigenen Gedanken. Das Hemd klebt ihm am Rücken. Was würde Kerstin Werner denken, könnte sie ihn beobachten bei seinem Kampf mit sich selbst? Zwischen den Bäumen erkennt er bereits den kahlen Hang der Skipiste und an dessen Rand die Drahtseile des Lifts mit den langsam auf- und abwärtsgleitenden Sesseln. Es ist, als ob er auf einen Moment der Erleuchtung wartete, ein Platzen dieser Blase um ihn herum. Warum kann er sich nicht einfach untreu sein? Welcher perverse Drang befiehlt ihm festzuhalten gerade an jenen Eigenschaften, die er an sich am wenigsten schätzt?
Weidmann tritt aus dem letzten Waldstück, das sich zwischen zwei kegelförmigen Hügeln hinaufzieht. Nackt und gelblich ragt die Skipiste vor ihm auf. Der untere, steilere Teil liegt bereits halb im Schatten, der flachere darüber entzieht sich seinem Blick. Nur das Dach der Bergstation glänzt in der Sonne. Mit einer Hand über den Augen betrachtet er die Szenerie, die graue Schlangenlinie der Superrutschbahn, auf der gerade zwei Schlitten bergab sausen. Mit der Verzögerung einer halben Sekunde erreicht ihn das Juchzen der Piloten. Doppelsessel schweben leer über den Bäumen, die Bügel geöffnet. Flutlichtmasten stehen nutzlos entlang der Strecke. Eine Landschaft, die nach Schnee verlangt und jetzt unvorteilhaft aussieht, gerupft und ihres Zwecks beraubt. Wo die Rutschbahn in einem flachen Stück ausläuft und an zwei in den Boden eingelassenen Autoreifen endet, stehen die beiden Fahrer auf und wuchten die Schlitten aus der Spur. Einen Moment lang glaubt Weidmann in ihnen zwei Schüler zu erkennen, aber es sind Fremde. Geländer aus Holz laufen trichterförmig zusammen vor dem Lifthäuschen, wo sich im Winter die Skifahrer drängen und jetzt eine Männergestalt sich aus dem Schatten löst, die Zigarette austritt und den beiden beim Einsteigen in den Lift behilflich ist. Die Schlitten werden an einen Haken an der Rückenlehne gehängt.
Er wüsste gerne, was er erwartet hat, das ergäbe dann einen Maßstab, an dem der Moment sich messen ließe. So geht erratlos die wenigen Schritte zum Lifthäuschen und fragt den Mann dort, ob man auch hier unten eine Karte lösen könne.
Der Gefragte schraubt seinen Flachmann zu und antwortet mit einer Bewegung des Kopfes. Das Hemd abgetragen, die Jeans ausgebeult, und andere Adjektive würden Weidmann für das Gesicht auch nicht einfallen. Während er ihm folgt, steckt er das Portemonnaie wieder ein. Von der Fensterbank des Häuschens aus erreicht ihn Radiomusik. Ein kühler Hauch weht den Hang herab. Steif wie vor dem Erschießungskommando, bloß mit dem Blick über die Schulter stellt er sich auf eine Steinplatte im Boden, dann schaukelt der Sessel heran, die Sitzfläche trifft ihn in den Kniekehlen, und eine Wolke billigen Cognacs
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