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Grenzgang

Grenzgang

Titel: Grenzgang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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hüllt ihn ein, als der Mann den Bügel schließt.
    »Danke«, sagt Weidmann und schwebt davon. Nach wenigen Sekunden befindet er sich bereits auf Baumhöhe, dann nähert sich ein Summen, der Liftsessel rattert über die erste Stütze, und das Summen liegt hinter ihm. Ruhig und gleichmäßig zieht er durch die Luft. Hinter den Bäumen Bäume und hinter den Hügeln Hügel. Er wundert sich und weiß nicht worüber. Die Luft trägt ihm keine Geräusche entgegen, nichts außer ihrer eigenen porösen Bewegung. Über ihm ein metallischer Arm, der mit verschweißter Hand in den Draht greift – daran hängt sein Leben. Er rattert auf die nächste Stütze zu. Langsam taucht der flachere Pistenabschnitt vor ihm auf. Leere Doppelsessel kommen ihm entgegen, und auch vor ihm schweben sie in gleichmäßiger Reihe, lauter artgleiche Gebilde, nur durch Nummern auf den Rücklehnen zu unterscheiden. Unmittelbar vor ihm gondelt die 12. Instinktiv hat er sich in die Mitte seines Sessels gesetzt, so als würde er dem Gleichgewichtssinn der Konstruktion misstrauen, aber jetzt rückt er zur Seite, lehnt sich zurück, atmet langsam. Worüber er sich wundert, fällt ihm auf, ist die Empfindungslosigkeit, die ihn manchmal befällt, das plötzliche Einfrieren von inneren Regungen unter einer Art von Anästhesie, die alles außer der direkten Sinneswahrnehmung ausblendet. Ein emotionales Vakuum, aber das wiederum ist wahrnehmbarund reizt ihn, so wie man beim Zahnarzt nicht aufhören kann, das taube Zahnfleisch mit der Zungenspitze zu betasten. Ob das die spezifische Art ist, wie er alt wird, vor dem Einsetzen der körperlichen Gebrechen? Auf einmal treibt er durch die Stille wie durch einen Alptraum. Als würde dieser Doppelsessel ihn bis ans Ende seiner Tage durch eine bedeutungslose Landschaft tragen, den einzigen Fahrgast einer entvölkerten Welt. Und unten beim Lifthäuschen stünde der Teufel persönlich, lachte hohl und schickte ihm mit dem Flachmann ein Prosit hinterher.
    Mit geschlossenen Augen kämpft er die Vorstellung nieder und weiß: Er müsste sein Leben ändern, damit es diesen Namen verdient, stattdessen treibt er zehn Meter über dem Boden durch ein verwaistes Naherholungsgebiet. Mit keinem Wort hat er Kerstin Werner bedeutet, dass er sie wiedersehen möchte. Und sie hat die Nachricht verstanden und sich im Morgengrauen aus der Wohnung geschlichen.
    Als er die Augen wieder öffnet, schwebt er bereits der Bergstation entgegen. Rechts unter ihm beginnen die Parkplätze. Ein halbes Dutzend Autos verliert sich darauf, und vor der Skihütte sieht er Sitzgarnituren und Sonnenschirme, eine Handvoll Gäste. Die Sonne steht tiefer, als er erwartet hat. Der Boden kommt näher, ein Hinweisschild rät zum Aufklappen des Bügels, das nächste warnt vor dem Rausfallen: Rotes Dreieck um ein purzelndes Männchen.
    Zu spät, denkt er.
    Der Helfer beim Ausstieg riecht nach billigem Rasierwasser statt nach Cognac, ansonsten sieht er seinem Kollegen im Tal ziemlich ähnlich. Weidmann geht ein paar Schritte über abgewetzten Mattenboden. Die Bergstation steht auf einer Hügelkuppe, die links in einen flachen Sattel hinabführt, wo im Winter gerodelt wird. Weidmann hält sich in der Mitte des Hanges, folgt den Spuren im hohen Gras zur Skihütte. Die Telefonzelle daneben ist sein Ziel. Beruhigt stellt er fest, dass sich unter den Kaffeegästen vor der Hütte niemand befindet, den er grüßen müsste. Eine Großfamilie offenbar, zu der auch die beidenRutschbahnpiloten gehören. Mit einem Nicken geht er vorbei. Sucht im Gedächtnis nach ihrer Nummer und findet sie. Er hat keine Ahnung, was er Kerstin Werner sagen will. Oder Daniel, falls der drangeht.
    Die üblichen Obszönitäten zieren die Glaswände der Zelle. Jemand aus der Großfamilie muss eine Bemerkung über ihn gemacht haben, denn als er durch die Scheibe zurückblickt, begegnen ihm amüsierte Gesichter. Ein einsamer, nicht mehr ganz junger Mann, der am Wochenende Superrutschbahn fährt. Weidmann nimmt den Hörer von der Gabel und wirft fünfzig Cent in den Schlitz.
    Wollte nur mal hören, wie’s dir geht.
    Ich hätte dir gerne Kaffee gemacht.
    Du hast was bei mir vergessen – mich.
    Es tutet lange. Die Familie hat sich wieder von ihm abgewandt und wahrscheinlich beschlossen, den einsamen Spinner nicht zu provozieren. Die Doppelsessel des Lifts fahren auf und ab. Ist das, was er tut, bloß eine Kopflosigkeit, die auf überspannte Gedanken an einem Samstag Nachmittag folgt? Jedenfalls hat er

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