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Grenzgang

Grenzgang

Titel: Grenzgang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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schweißnasse Hände. Wie oft können wir erklären, was wir tun, hat er Kerstin Werner gefragt, gestern Abend auf seinem Balkon. Selten, aber der Versuch lohne sich trotzdem, hat sie gesagt. Und er denkt: Wie gut, dass es immer noch Worte gibt, die einen Anschein von Sinn erwecken. Die sich auf das Schweigen legen wie Herbstblätter auf einen Teich. So bunt, dass man das Schwarze darunter nicht sieht.

13
    Sie hört den Schlüssel in der Haustür und gleich darauf seine Schritte im Vorflur, aber statt ihm entgegenzugehen, dreht sie nur das Radio leiser. Feuchte Hitze in der Küche lässt die Fensterscheiben beschlagen, durch die hindurch sie beobachtet, wie Kleinhenn sich mit Handschlag und Verbeugung von einem ihr unbekannten Paar verabschiedet: Eine ausgesprochen unästhetische Verbeugung, ein Einrollen über seinem Kugelbauch, und in Richtung der Frau vollführt, sieht es aus wie die Androhung eines Handkusses. Wieder mal Interessenten, die ersten seit Wochen, aber ob sie dabei sind, zu Kunden zu werden, lässt sich aus der Art des Abschieds nicht erkennen. Ein Paar Mitte vierzig, sie in Rock und Bluse, er im Sakko ohne Krawatte. LDK-Nummernschild. Dass Kleinhenn seinen Mercedes als Erster startet und mit einem kurzen Quietschen der Reifen losfährt, deutet eher auf einen weiteren geplatzten Deal. Den zehnten, wenn sie richtig gezählt hat. Irgendwas scheint mit Meinrichs Haus nicht in Ordnung zu sein, und wenn sie ehrlich sein soll: Irgendwas daran gefällt ihr. Thomas hat im Frühjahr allen Ernstes vorgeschlagen, den verrottenden Leitungen unter dem Rehsteig 52 zu entfliehen und einfach ein Haus weiter zu ziehen, aber der Gedanke, in den ehemaligen Räumen der Meinrichs zu leben, erscheint ihr unpassend und geschmacklos. Nicht nur, weil sich an ihrer mangelnden Sympathie für die ehemaligen Nachbarn durch deren Ableben nichts geändert hat (erst sie, dann er, innerhalb von drei Monaten, wie Liebesvögel). Etwas stößt ihr unangenehm auf bei der Vorstellung, in dem Haus zu leben, auf das sie jahrelang bei jedem Blick aus dem Küchenfenster geschaut hat. Als würde sie permanent zurückblicken in die Vergangenheit. Die verrottenden Leitungen sind ein Ärgernis, sogar von Jahr zu Jahr ein größeres, weshalb sie jeden Freitag die Immobilienanzeigen im Boten studiert und hofft, demnächsteine neue Bleibe zu finden. In der Hornberger Straße gibt es Eigentumswohnungen, aber noch weiter den Hang hinaufziehen will Thomas nicht. Sei ihm zu protzig da, sagt er. Monsieur le Bürgerschreck.
    »Thomas?« Da sie keine Schritte hört, ruft sie über die Schulter seinen Namen und erschrickt zu Tode, als zwei Meter hinter ihr sein »Ja« erklingt. Mit einer Hand auf der Brust fährt sie herum und muss zwei Mal durchatmen, bevor sie sprechen kann.
    »Himmel, hast du mich … Bist du unter die Indianer gegangen?«
    »Hugh. Den Regeln des Hauses gehorchend, zog Alter Büffel die Schuhe aus. Im Vorflur.«
    »Ich hab die Tür nicht gehört.«
    »Weil sie offen stand.« So wie die Küchentür, die er beinahe ausfüllt mit seinen Schultern, während er sie mit amüsierter, leicht spöttischer Miene anschaut, jeweils eine Hand rechts und links gegen den Türrahmen gestützt. »Geht’s wieder?«
    Immer noch klopfenden Herzens erwidert sie seinen Blick und nickt. Er hat die Hemdsärmel hochgekrempelt und schaut drein, als wüsste er was, was sie nicht weiß, und unter normalen Umständen würde sie die Neuigkeit auch gerne erfahren, aber es geht auf sechs Uhr los, und vor ihr auf der Anrichte steht das halbfertige Abendessen und verlangt ungeteilte Aufmerksamkeit. Leider besteht Kochen zur Hälfte aus Organisation – wäre es nur Gefühls- und Geschmacksache, wäre sie besser darin, an einem anderen Tag jedenfalls. Heute strebt ihr gesamter Seelenhaushalt ihrem Sohn entgegen wie ein aufgescheuchtes Empfangskomitee, sie kann sich einfach nicht auf die Arbeit konzentrieren.
    Wo ist das Kochbuch?
    Vorfreude kann ein ausgesprochen anstrengendes Gefühl sein, wenn man es so lange Zeit zu empfinden versucht. Ihre Hände kreisen jetzt über der Anrichte, aber sie weiß gar nicht mehr, wonach sie sucht. Der Schreck über Thomas’ plötzliches Auftauchen in der Küche ist in das diffizile Räderwerk ihrerKonzentration gefahren und blockiert es. Etwas von seinen Einkäufen braucht sie und muss daran denken, die Form für das Kartoffelgratin nicht mit Knoblauch auszureiben, denn Natalie hasst Knoblauch und würde sich das zwar nicht anmerken

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