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Grenzgang

Grenzgang

Titel: Grenzgang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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Einkäufer im Supermarkt ›Tom‹. Wer sowieso der Meinung ist, dass familiäre Zusammenkünfte wie Maskenbälle sind, demmacht die Teilnahme unter falschem Namen vielleicht mehr Vergnügen. Sie jedenfalls wird sich die Freude über den Besuch nicht verderben lassen. Sie hat lange genug gewartet.
    »Nice to meet you«, sagt sie leise, lässt in der Küche alles stehen und liegen und geht hinaus in den Garten.

    * * *

    Ihr erster Gedanke war: Was für ein Theater! Eine Mischung aus Karl-May-Festspielen und Großem Zapfenstreich, mit all den Reitern, Uniformen und Befehlen, als ginge es gleich ins Manöver. Fahnen wurden präsentiert, gesenkt und geschwenkt, Meldungen erstattet, Gesellschaften zogen ein und winkten fröhlich, und die ganze Zeit über stand Anita neben ihr auf dem übervollen Marktplatz und murmelte: »Was für eine Bauernshow.« Gewehre über und Gewehre ab (natürlich kein Gewehr weit und breit), präsentieren hier und präsentieren da, linksrum, rechtsrum, Peitschenknall. Aber ihr machte es Spaß, trotz ihrer Müdigkeit und dem leichten Kommerskater, den vier Stunden Schlaf nicht zu vertreiben vermocht hatten. Es war harmlos und liebenswert, und während der endlose Zug sich die Hauptstraße entlang aus dem Ort wand, freute Kerstin sich auf das Wandern im Wald und auf noch mehr Theater während der großen Mittagsrast. Überall Musik, gute Laune und eine kindliche Begeisterung in den Gesichtern sämtlicher Altersklassen. Dann kam der sogenannte Kleiberg, und es wurde richtig lustig: Schwitzend, rutschend und lachend wälzte sich die Grenzgangskarawane die Böschung hinauf, Anita fluchte in einem fort, und Kerstin genoss die Früchte des intensiven Trainings der letzten vier Semester, stieg leichtfüßig bergan und blieb alle zwei Minuten stehen, um auf ihre Freundin zu warten. Ihre Laune wurde besser mit jedem Meter und mit jedem Mal, da sie Anita die Hand hinhielt und sagte: »Lass dir doch helfen, Liebling.« Sie hatte sich die Haare zum Zopf gebunden, trug wadenfreie Hosen und einen Sport-BH unterm T-Shirt, dazu leichte Joggingschuhe, weil siekeine Wanderschuhe besaß. Anita hatte nicht mal auf ihre vielen Armreife verzichtet.
    Der Himmel war bewölkt, ohne nach Regen auszusehen. Es ging immer weiter nach oben durch dichten, steilen Wald, in dem das Licht die Tageszeit nicht verriet. Zwischendurch maß Kerstin ihren Puls und freute sich über den Wert von 128. Angesichts der Steigung nicht schlecht. Anitas Gesichtsfarbe sah nach oberhalb von 160 und unterhalb von begeistert aus, aber sie fingerte schon in ihren engen Hosentaschen nach der Zigarettenpackung.
    »Vielleicht solltest du wenigstens ab und an mit dem Fahrrad zur Uni fahren«, sagte Kerstin und steckte die erwartet scharfe Antwort ein wie ein Kompliment. Es machte Spaß, Anita ein bisschen überlegen zu sein und es auch zu zeigen. So wie es vor ein paar Jahren Spaß gemacht hatte, ein besseres Abi hinzulegen als Hans seinerzeit. Sie zuckte die Schultern und sah sich um unter den verschwitzten roten Gesichtern, den nassen Nackenpartien und dunkelfleckigen Hemden. Gemeinsame körperliche Anstrengung war ihr angenehm. Die ließ sogar zwischen Fremden eine Art von Kameradschaft entstehen, die das Gegenteil jener Befangenheit war, die sie selbst so oft empfand. Vielleicht studierte sie deshalb Sport.
    Applaus brandete auf, als einer der Wettläufer in seiner Trikolore-Uniform den Hang hochtrabte, als wäre es eine Ebene.
    »Flotter Kerl«, sagte Kerstin, obwohl sie das Gesicht kaum erkannt hatte – einfach aus Lust, so was in der Art zu sagen.
    »Is noch zu ha’m«, sagte hinter ihr ein Mithörer.
    »Billich abzuge’m«, warf ein anderer ein.
    »Nein danke.« Anita zog an ihrer Zigarette. »Nich mal für geschengt.« Die sprach, fiel Kerstin auf, irgendwie anders, seit sie sich sozusagen in ihrer natürlichen Umgebung befand, in der alle so sprachen, als hätten sie Kiesel im Mund.
    »Ich wäre dann so weit.«
    »… sagte Kerstin triumphierend.«
    »Aber ich warte gerne noch, bis dein Puls sich wiederberuhigt hat. Darf ich mal messen?« Sie drehte das linke Handgelenk – das war unter Sportstudentinnen so: Man trug die Uhr männlich leger auf der Unterseite des Arms – und streckte die Rechte aus zu Anitas Halsschlagader. Die zog zwar den Kopf zur Seite wie ein scheues Pferd, aber Kerstin machte einen Schritt nach vorne und legte ihr drei Finger seitlich unter den Kinnwinkel, auf schweißfeuchte Haut. Zählte und sagte nach dreißig

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