Grenzgang
ganz vernünftig und fragen uns: Würde ich dir einen so langen Einkaufszettel schreiben, wenn es genauso gut auch ohne die Sachen ginge?«
Er antwortet nicht, und sie hört das Klicken der Uhr an der Wand. Drei Minuten nach sechs. Landung des Flugzeugs in Frankfurt um 20 Uhr 21. Ihre Wut verwandelt sich in Erstaunen darüber, wie verschieden zwei Menschen sein können, und was für einen gewaltigen Umfang das Wort ›Liebe‹ hat. Manchmal reicht Sprache nicht aus, ihn zum Ausdruck zu bringen, und man ist versucht, sich mit spitzen Gegenständen zu behelfen.
»Vielleicht nicht genauso gut, aber …«
»Aber doch ungefähr, nicht wahr: Gratin ohne Sahne, Salat ohne Paprika, Grill ohne Anzünder, Eis ohne …«
»Grillanzünder ist ein gutes Beispiel. Wir haben nämlich einen Elektrogrill.«
Sie dreht sich erneut um, sieht ihm ins Gesicht, sucht nach Spuren von Zuneigung und ist erstaunt, wie leicht die zu finden sind: in seinem Blick, der Mischung aus Müdigkeit, Verzagtheit und vielleicht sogar einem Anflug von Reue. Falten um die Augen hat er und angeschwollene Tränensäcke. Selbst im Streit sieht er so aus, als schaute er die Fernsehnachrichten und befände sich in stiller Sorge über den Lauf der Welt.
»Du glaubst, wir reden über Kleinigkeiten, oder?«, sagt sie.
»Ich glaube, wir reden darüber, dass ich vergessen habe, einen mir aufgetragenen Auftrag auszuführen, weil ich den ganzen Nachmittag in einem …«
Noch während er redet, beginnt sie den Kopf zu schütteln, und als sie zusätzlich die Hand hebt, verstummt er.
»Lass deine Tante aus dem Spiel.«
»Okay, aber ich glaube, wir sollten darüber reden, ob die ganze Idee mit dem Abendessen so gut ist. Um halb neun landet das Flugzeug, bis die beiden durch den Zoll kommen und ihr Gepäck haben, ist es halb zehn, und zurück in Bergenstadt sind wir frühestens um elf.«
»Nach amerikanischer Zeit später Nachmittag, und die beiden haben Hunger. Thomas, ich hab dir gesagt, wenn mein Sohn nach zwei Jahren hierher zu Besuch kommt, dann koche ich für ihn, und du kannst das gerne unvernünftig oder überflüssig finden, aber …« Aber du musst damit rechnen, dass ich dir das verdammt übel nehme!
»Wieso kehren wir nicht unterwegs irgendwo ein?«
»Wieso diskutieren wir darüber, ob ich ein Abendessen für meinen Sohn koche?« Ihre Stimme gewinnt an Volumen. »Wieso sitzt du nicht im Auto und bist unterwegs zum Supermarkt? Wieso glaubst du, mir einfach aufzwingen zu können, was dufür vernünftiger hältst, indem du ignorierst, worum ich dich gebeten habe?«
Ihr antworten Stille und das Ticken der Uhr und kurz darauf das Schließen der Haustür. Sie hört seinen Wagen starten und sieht ihm durchs Küchenfenster nach, als er den Rehsteig hinaufrollt und hinter der nächsten Kurve verschwindet. Fünf nach sechs. Um halb sieben wird er zurück sein, wenn keine Zeit mehr bleibt, seine Einkäufe zu verarbeiten. Stattdessen werden sie sich zusammen ins Auto setzen und schweigend nach Frankfurt fahren, froh über das Radio in ihrer Mitte. Irgendwann wird sie ihm kurz die Hand auf das Bein oder die Schulter legen, als Zeichen dafür, dass die erste Post-Streitphase abgelaufen ist. Er wird sich selbst anklagen, den Hauptteil der Verantwortung schultern und vielleicht noch einen Witz über seinen Starrsinn machen. An einer Ampel in Frankfurt oder im Parkhaus des Flughafens werden sie sich sehr kurz küssen. Wahrscheinlich Hand in Hand zur Ankunftshalle gehen. Eine wundervolle Transparenz umgibt das alles. Die gläserne Ehe: Wo sie herkommt und wo sie hingeht, der ganze Weg liegt offen da, und sobald man sich das klarmacht, weiß man überhaupt nicht mehr, wie Streit und Missverständnisse überhaupt aufkommen können. Sie steht in der Küche, massiert sich den Nacken und hätte Lust, mit ihm zu schlafen. Verrückt, oder?
Mit einem Blick über die Anrichte stellt sie fest, dass sie nichts tun kann außer ein bisschen aufzuräumen. Während sie die Zutaten des Essens verpackt und zurück in den Kühlschrank stellt, nimmt sie innerlich den Faden wieder auf, den sie vorhin verloren hat: Vorfreude kehrt zurück, ein dicker Vogel mit kurzen Flügeln, dem es nicht leichtfällt, sich in der Luft zu halten. Natalie also heißt die Freundin, die Knoblauch verabscheut und es nicht mag, von Fremden umarmt zu werden, aber ansonsten ist sie wirklich überhaupt nicht kompliziert. Man kann sie auch einfach ›Nät‹ nennen. Und Daniel ›Dän‹. Und den einsamen
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