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Grenzgang

Grenzgang

Titel: Grenzgang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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    »Sechsundsiebzig.«
    »Geht doch.«
    »Mal zwei, Schätzchen.« Sie hielt die Hand einen Augenblick länger an Anitas Hals, wischte ihr über die Wange und sagte:
    »Macht hundertzweiundfünzig.«
    »Ich leb halt schneller.«
    »Hald schnella? Ist deine Zunge auch müde, hab ich dich gestern schon fragen wollen. Du sprichst so komisch, seit wir hier sind.«
    Darauf sagte Anita nichts, sondern warf ihre eine Kusshand zu, trat die Zigarette aus und nahm die nächste Etappe in Angriff.
    Kurz nachdem sie den Kleiberg erklommen hatten, riss die Bewölkung auf, und die ersten Sonnenstrahlen tauchten den Wald in Licht und Schatten. Die Wege waren schmal, führten über einen steinigen, gezackten Kamm und zwangen den Strom der Wanderer in die Form eines endlosen Lindwurms. Gesang und Schlachtrufe hallten durch den frühen Morgen. Anita traf ein paar Bekannte, und wie schon am Vorabend auf dem Marktplatz fand Kerstin es leicht, sich an den Gesprächen zu beteiligen. Dörfliches, kleinstädtisches Milieu, vertrautes Terrain. Sie hatte an einem vorbeikommenden Flachmann genippt und spürte angenehme Wärme im leeren Magen, den Geschmack von Kümmel in der Kehle und die erste zarte Andeutung von Trunkenheit zwischen den Schläfen. Möglich, dass sie demnächst mitsingen würde, wenn es in ihrer Umgebung wieder losging damit. Alles was sie in Köln zuletzt bedrückt hatte, wardort geblieben und musste warten, bis sie am Sonntag wieder zurückfuhr. Erst mal stand dieser Grenzgang an und wollte gefeiert werden.
    »Erklär mir noch mal die Spielregeln am Rastplatz«, sagte sie.
    »Frühstücksplatz.«
    »Man geht zu irgendeiner Gesellschaft, lässt sich drei Mal hochwerfen, bezahlt ein paar Mark, bekommt ein Abzeichen und mit dem Abzeichen Getränke – umsonst?«
    »That’s right.«
    »Das erscheint mir hübsch großzügig.«
    »Wir Bergenstädter sind so. Beschenkt mit dieser wunderbaren Natur …« Anita schlug nach einer Mücke auf ihrem Hals, »… teilen wir nur zu gerne mit allen, die sich in unsere Schlucht verirrt haben. Es ist so, wie wenn Leute aus der DDR rüberkommen, die kriegen ja auch ein Begrüßungsgeld, um sich die erste Banane zu kaufen.«
    »Ein sehr guter Vergleich.«
    »Bloß hier hast du die Wahl, welcher Gesellschaft du beitreten willst.«
    »Aber wieso bist du in keiner? Ich hab schon T-Shirts gesehen von irgendwelchen Schwesternschaften.«
    »Mädchenschaften. Ich bin nicht gesellschaftsfähig, weißt du doch.«
    »Stimmt. Du bist ja kaum WG-fähig. Wir werden demnächst eine ernsthafte Auseinandersetzung über den Zustand unserer Küche haben.«
    Anita gab ein würgendes Geräusch von sich, als müsste sie sich übergeben, dann lachte sie ihr helles, undurchsichtiges Lachen und hakte sich bei Kerstin unter.
    »Rapunzel, Rapunzel, weißt du schon, unter welche Fahne du gehst? Ich rate zur Burschenschaft Rehsteig. Die gibt’s erst seit diesem Grenzgang, die sind alle noch ziemlich frisch.«
    »Die Frischlinge vom Rehsteig, okay.« Und so weiter und so weiter. Sie wanderten und redeten, und es war gerade erst halbzehn, als vor ihnen Musik erklang und der wieder breiter gewordene Strom der Wanderer sich in eine Senke ergoss. Rechts oberhalb schien eine Straße zu verlaufen, dort standen zwei Krankenwagen der Johanniter und eine Reihe von Anhängern mit den Schriftzügen örtlicher Metzgereien. Mehrere Kapellen spielten, und auf dem erst zur Hälfte gefüllten Platz – eher eine Lichtung, von einzelnen Bäumen gesäumt – bildeten sich Trauben um die eilig entrollten Fahnen. Hochrufe erklangen.
    »Voilà«, sagte Anita. »Der Frühstücksplatz Sackpfeife.«
    »Warum heißt hier alles so komisch?«
    »Keine Spitzfindigkeiten jetzt. Ich hab Durst, du hast Durst. Wir brauchen ein Abzeichen.«
    Kerstin folgte ihrer Freundin und fand sich nach wenigen Minuten von sechs Männern umringt. Ein siebter wandte sich von einem Bierfass herab an sie und wollte ihren Namen wissen. Die anderen tauschten ein paar Blicke und schienen sich zu freuen statt eines weiteren männlichen Zweihundertpfünders eine schlanke und ungefähr gleichaltrige Dame vor sich zu haben, die sich im nächsten Moment in ihre Hände begeben würde. Einer verdrehte den Kopf nach Anita, die bereits wieder gelandet war und ihr Abzeichen in Empfang nahm. Mit dem Blick auf die über ihr hin und her schwingende Fahne rang Kerstin einen kurzen Fluchtimpuls nieder, folgte der Anweisung »Ahme runder und fesd an’n Körper« und ließ sich

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