Grenzgang
nach hinten fallen.
»Die Kerstin Werner aus’m schönen Köln is bei uns unter der Fahne«, brüllte der Uniformierte auf seinem Fass. Rot von Alkohol oder dem Brüllen oder einer ererbten Neigung zu Bluthochdruck. Kerstin roch Männerschweiß und Bieratem, fand die Hände an ihrer Körperunterseite aber den Umständen entsprechend dezent. »Sie lebe …« Dann flog sie über die Köpfe des Wurfkommandos und bis an den Rand der grünen, mit einem springenden Reh verzierten Fahne. Es fühlte sich gut an. Die Bäume über ihr kamen ein wenig näher, sie erinnerte sich an die Balanceübungen auf dem großen Trampolin und hielt ihren Körper gerade und waagerecht während der Flugphase. ZwölfArme fingen sie auf und warfen sie ins zweite »Hoch!« hinein, ein Sonnenstrahl traf sie im Gesicht, und unter sich hörte sie Anita rufen: »Höher, Jungs. Hoch das Kind!« Musik trieb in Wellen über den Platz.
Der dritte Flug war der höchste. Kerstin drehte sich ein wenig in der Luft und sah die Menschenmasse auf dem Frühstücksplatz, viele Fahnen und die anderen gerade im Flug begriffenen Grenzgänger. Sie fühlte ihr Herz schlagen und ihr T-Shirt rutschen und dachte für einen kurzen, aber klar umrissenen Moment, dass es schön wäre, unten würde jemand anderes als Anita auf sie warten; jemand, den sie gerade erst getroffen hatte, mit dem sie Hand in Hand über den Platz schlendern, ein Bier trinken und den sie später vielleicht küssen konnte. Einen Kavalier fürs Fest und den Tanz abends im Zelt. Mehr nicht. Dann war der Moment ebenso schnell vorbei wie ihr Flug, sie hatte wieder Boden unter den Füßen, sagte »Danke allerseits« und ging weiter zu dem Tischchen, wo rehförmige Anstecknadeln ausgegeben wurden.
Nach dem zweiten Bier hatte sie eindeutig einen Schwips. Ein Schulfreund von Anita weihte sie in die historischen Wurzeln des Grenzgangs ein: die Grenzstreitigkeiten mit den Nachbargemeinden, die regelmäßig durchgeführten Grenzbegehungen, bei denen es offenbar die Aufgabe des Mohren gewesen war, alle Gauner zu erschrecken, die sich an den Grenzsteinen zu schaffen machten, dann die allmähliche Überführung des Amtsvorgangs in ein Volksfest, kurz, all das, was Anita in ihren Schilderungen zugunsten von Wandern, Trinken, Partnersuche übergangen hatte.
»Interessant«, sagte Kerstin. »Und warum alle sieben Jahre?«
»Na ja«, bekam sie nach reiflicher Überlegung zur Antwort. »So lang dauert’s halt zwischendurch, gell.«
Später schlenderte sie eine Weile alleine über den Platz, aß eine Bratwurst und schaute von ferne dem Mohr und seinen Wettläufern bei der Arbeit zu. Einer der beiden sah ganz schick aus, fand sie, trotz der albernen Uniform. Nicht groß gewachsen,aber gut gebaut, breitschultrig und mit starken Armen schien er sein Amt zu genießen wie eine unverhoffte Auszeichnung; jedenfalls strahlte er allen entgegen, die auf dem mit einem Tuch abgedeckten Grenzstein Platz nahmen und sich zum Trommelwirbel drei Mal hochheben ließen. Der Mohr murmelte dazu den immergleichen Spruch, den Kerstin aus der Ferne aber nicht verstand. Hinterher bekam man zur Erinnerung eine schwarze Backe, und darauf hatte sie keine Lust. Die Schlange war sowieso zu lang. Der zweite Wettläufer hatte einen Kopf wie ein Kürbis und schien Hautpflege für Frauensache oder Zeitverschwendung zu halten.
Schließlich fand sie Anita wieder – im Arm eines weiteren ehemaligen Schulkameraden – und wollte gerade anfangen, sich ein wenig zu langweilen, als mit lautem Peitschenknallen der Aufbruch verkündet wurde. Ein Raunen ging durch die Menge, Wanderer erhoben sich von ihren Picknickplätzen im Gras, wischten sich über den Hosenboden, sammelten ordentlich ihren Müll ein.
»Na dann, weiß nich, ob ich’s unfallfrei bis zurück schaffe«, sagte Anitas vollbärtiger Prinz, ein Timo, wenn sie’s richtig verstanden hatte. Kein sonderlich sympathischer Typ allerdings, sondern einer, dem man bereits jetzt ansah, wie unausstehlich er werden würde, sobald ein Standesbeamter der Frau neben ihm das Versprechen abgenommen hatte, ihm auch in schlechten Zeiten treu zu bleiben. Ein viel zu klobiger Ring am kleinen Finger zeigte die Art seines Geschmacks an. Kerstin hielt sich, als sie sich in den Zug einreihten, auf Anitas Seite des Duos.
»Eigentlich war’s so gedacht, dass du mich stützt, wenn’s nötig werden sollte«, teilte die dem Siegelringträger mit. Der hatte seine Rechte bereits in ihrer Gesäßtasche verharkt.
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