Grenzgang
lassen, meint Daniel, aber das Gratin auch nicht anrühren, sondern es gewissermaßen höflich und unauffällig links liegen lassen. Und dafür verbringt sie ja nicht den halben Tag in der Küche.
»Du machst mich nervös«, sagt sie. Er steht immer noch in der Tür, mit verschränkten Armen jetzt und gegen den Rahmen gelehnt – sie sieht es durch ihren Hinterkopf, mit der Rundumwahrnehmung der hektischen Hausfrau.
»Wie das?«
»Wenn du so hinter mir lungerst wie ein Bär. Geh mir lieber zur Hand.«
»Was soll ich tun?«
»Gib mir als Erstes die süße Sahne.«
Von Knoblauch abgesehen ist Nätty, wie drüben alle sagen, auch nicht kompliziert, hat sie sich versichern lassen. Auf dem jüngsten Foto jedenfalls sieht sie sympathisch aus und – Kerstin hat das nicht denken wollen, aber der Gedanke war schneller – etwas attraktiver, als sie sich die Freundin ihres Sohnes vorgestellt hätte: mit einem offenen Lachen, großen Augen und sichtlich im Reinen sowohl mit sich als auch dem Mann neben ihr, der einmal Daniel Bamberger war, aber jetzt eine Schildmütze trägt, keine Pickel mehr hat und aus dessen Gesichtsausdruck Kerstin stille Freude über die eigene Verwandlung herausliest. Außerdem liegt in seiner Miene eine Selbstzufriedenheit, die ihr bekannt vorkommt aus jener Zeit, die sie in Gesprächen notgedrungen ›meine erste Ehe‹ nennt.
»Nicht im Kühlschrank, in deiner Einkaufstasche«, sagt sie, weil Thomas die Küche durchquert, um ihre Arbeitsanweisung zu befolgen. Hinter ihr bleibt er stehen, und für einen Augenblick lässt sie das Suchen sein und die Hände sinken, in Erwartung einer zärtlichen Berührung und der Bereitschaft, diese zu erwidern. Es ist seltsam, dieses stürmische Verlangen nacheiner Umarmung, das sie manchmal überfällt und trotz einiger gemeinsamer Symptome keine Lust ist, nicht sexuell, sondern eine Form stummer Gegenwehr, vielleicht den hektischen Bewegungen ähnlich, mit denen Ertrinkende schließlich beschleunigen, wovor sie sich zu retten versuchen (du übertreibst, würde Thomas sagen). Gegen das Erstarren, denkt sie mangels eines besseren Wortes, und natürlich gegen die Kränkungen, die einem irgendwann ausgerechnet der eigene Körper zufügt. Es gibt Tage, da erinnern die Schwankungen ihrer gefühlten Körpertemperatur an ein Börsenbarometer.
Wo auch immer seine Hände sind, in ihrem Nacken nicht. Sie macht einen halben Schritt nach hinten. Am Nachmittag hat sie gedacht, dass sie ihre Vorfreude in den vergangenen Wochen vielleicht zu sehr für sich behalten hat, statt sie mit ihrem Mann zu teilen. Zwar ist es nicht sein Sohn, der zu Besuch kommt über Grenzgang, aber der Sohn seiner Frau, und genau genommen nimmt sie nicht ihm übel, dass ihm keine Vorfreude anzumerken ist, sondern sich, dass sie seinerseits erst gar keine erwartet. Erstens könnte er sich schließlich ihretwegen freuen, und zweitens ist Daniel älter geworden und hat nicht mehr viel gemeinsam mit dem zornigen Teenager, der die Besuche des Klassenlehrers im Haus ›zum Kotzen‹ fand. Sie hat sich vorgenommen, das Thema im Auto zur Sprache zu bringen, aber Thomas’ Blick von gerade eben lässt sie denken, dass sie sich vielleicht getäuscht hat, weil er seine Gefühle zwar wie immer in Ironie verpacken muss, sie aber dennoch hat. Und immerhin liegt seine Hand jetzt auf ihrer Schulter, wenn auch steif und reglos.
»… hab ich vergessen, fürchte ich.«
»Die Sahne?« Ein sirrender Alarm in der Schläfe, dem Seismographen unter ihren Körperpartien. Sie braucht die Sahne jetzt .
»Alles. Ich war gar nicht einkaufen.«
»Nein«, sagt sie, und das meint sie wörtlich. Schon seit Monaten hat sie das Gefühl, stimmungsmäßig nicht mit beidenBeinen auf der Erde zu stehen, sondern über einen Steg aus morschen Planken zu laufen, von dem sie nicht weiß, welchen Abgrund er verdeckt; nur dass sie es schon in der nächsten Sekunde erfahren könnte, scheint gewiss. Aber am Ende ist all das vorsichtige Balancieren sowieso umsonst. Die einfachsten Dinge, etwa die Zubereitung eines Abendessens, erweisen sich als undurchführbar, und wahrscheinlich wird er als Nächstes um Entschuldigung bitten, so als wäre ihm nur ein weiteres kleines Missgeschick unterlaufen, eine Unachtsamkeit. Bedauerlich, aber menschlich.
Seine Hand sitzt ihr wie eine Kröte auf der Schulter und ekelt sie geradezu an.
»Sieh mich an«, sagt er. Nimmt die andere Hand auf die andere Schulter und dreht sie herum wie … so.
Sie riecht
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