Grenzgang
»Nicht ich dich.«
»Stütz’n wa uns halt gegenseidich, gell.«
Der Zug überquerte unterdessen den Parkplatz und verschwand auf der anderen Seite wieder in dichtem Wald.Sommerhitze rieselte von den Bäumen, verband sich mit feinem Staub und dem Geruch von Rinde und trockenen Blättern. Timo und Anita sprachen über Autos, und Kerstin sah beim Gehen auf ihre Füße. Schon als Schulkind hatte sie eifersüchtig über ihre Freundinnen gewacht und weder Aufmerksamkeit noch Zuneigung gerne geteilt, und auch jetzt wäre es ihr nicht unrecht, dieser Timo würde auf der Stelle umknicken und diskret am Wegesrand verenden.
»Schamant?«, fragte der stattdessen. »Autos soll’n nich schamant sein, son’ern schnell.«
Vor ihnen machte der Weg eine langgezogene Rechtskurve um eine offene Wiese herum, weit wie eine Stadionrunde. In deren Mitte hatten sich die beiden Wettläufer platziert, und der Kürbiskopf ließ die Peitsche über dem Federbusch auf seinem Hut kreisen. Hier und da lösten sich Wanderer aus dem Zug und schlichen durch die letzte Reihe von Bäumen zum Rand der Wiese.
»Jetz’ geht’s los«, sagte Timo, »jetz’ wird Fangen gespielt.«
»Wieso?« Kerstin hielt die Augen auf den zweiten Wettläufer gerichtet, der seine Peitsche in der Hand hielt und in Richtung des Waldrands spähte. Sein Kollege ließ es derweil knallen.
»Abkürzen geht nich an Grensgang. Is verboten. Aber ’s versuchen natürlich doch immer’n paar durchzukommen.«
Die ersten Ausreißer hatten den Rand der Wiese erreicht und gaben einander Zeichen. Dann rannten drei Halbwüchsige gleichzeitig los. Kerstin reckte den Kopf. Aus der Menge der Wanderer im Halbrund der Kurve kamen Buh-Rufe, Pfeifen und Anfeuerungen, als die drei über die Wiese sprinteten. Der erste Wettläufer brach das Peitschen ab, der zweite rannte nach vorne, um den Ausreißern den Weg abzuschneiden. Der Verlauf des Weges machte aus der Wiese das Innere einer Arena, sonnendurchflutet und im Zentrum der Aufmerksamkeit all derer, die vorschriftsmäßig dem Weg des Mohren folgten. Zwei Ausreißer wurden schnell eingefangen und zurückgeschickt, der dritte kam durch und reckte die Arme in die Höhe, alsdurchliefe er ein Zielband. Das Publikum beklatschte die Erfolge beider Seiten.
»Wäre doch mal einen Versuch wert«, hörte Kerstin sich sagen. Ihr war nach ein bisschen Abwechslung und Herausforderung, und außerdem sah sie bisher nur Jungs aus dem Zug ausscheren. Frauen konnten schließlich auch schnell laufen, zumindest in Köln. Sie lief die hundert Meter in dreizehn Komma acht (handgestoppt, nicht ganz zuverlässig), und das Ganze hier schien ein Spiel zu sein. Warum also nicht? Sah ihr zwar nicht ähnlich, sich so zu exponieren, aber erstens hatte sie schon was getrunken und zweitens keine Lust, für den Rest der Wanderung einer Unterhaltung über den Charme von Autos beizuwohnen.
»Schaffste nich«, sagte Timo. »Keine Schongs.«
»Warum?«
»Weil«, antwortete Anita, »die beiden nur drauf warten, dass eine Frau sich einfangen lässt.«
»Ich hab nicht vor, mich einfangen zu lassen.«
»Die lassen lieber zehn Männer durchkommen als eine Frau. Erstens wegen der Ehre, und zweitens macht’s halt mehr Spaß, Frauen anzufassen.«
»Wer will’s ihn’n verdengk’n«, hickste Timo ebenso gedankenwie zungenschwer.
»Abwarten.« Kerstin löste ihren um die Hüfte gebundenen Pullover und gab ihn Anita.
»Zehn Mark dagegen«, sagte Timo.
»Okay.« Und damit war’s besiegelt. Kerstin sprang über den Graben neben dem Weg und fühlte auf der Stelle die Blicke, die sich in ihren Rücken bohrten. »Amazonenalarm!«, schrie ein Witzbold. Mit beiden Händen zog sie sich den Zopf zurecht und beugte sich nach vorne, um unter den Ästen hindurch auf die Wiese zu sehen. Zwei Ausreißer wurden links gerade zurück zum Weg eskortiert – der ganze rechte Teil war frei. Noch einmal sah sie sich um und erkannte Anita und Timo, die im Laufschritt nach vorne eilten, um von der Lichtung aus bessere Sicht zu haben. Scheißspiel, dachte sie, aber nun musste sie eswagen. Ihre Augen peilten einen Punkt am anderen Ende der freien Fläche an, ganz rechts außen, bevor der Weg wieder in einer dichten Tannenschonung verschwand. Nicht die kürzeste Strecke, aber am weitesten von den beiden Wettläufern entfernt. Knapp hundert Meter. Kleine trockene Äste knackten unter ihren Füßen. Sie spürte ihr Herz schlagen. Warum mache ich das jetzt?, fragte sie sich. Die beiden
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