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Grenzgang

Grenzgang

Titel: Grenzgang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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Kind getan hat. Noch immer dasselbe sommersprossige Jungengesicht, strohblonde Haare und dieses Gebaren eines Halbwüchsigen, als wollte ihm trotz seiner zweiunddreißig Jahre das Erwachsensein nicht gelingen. Etwa alle zwei Monate erzählt sie ihm die Geschichte, wie er einmal in Shorts und Kniestrümpfen in die Bäckerei gekommen ist und ›eine halbe Nussecke bitte, aber die größere Hälfte‹ verlangt hat.
    »Was gibt’s Neues in Bergenstadt?«, fragt sie.
    »Neues? Hier«? Er kugelt die Augen und bläst in seinen Kaffee.
    »So kurz vor Grenzgang.«
    »Grenzgang …«
    »Ich seh dir doch an, dass es was Neues gibt.« Sie spricht Hochdeutsch mit ihm oder jedenfalls das, was in Bergenstadt als Hochdeutsch gilt – seit der letzten Sitzung des Geschichtsvereins weiß sie, dass der örtliche Zungenschlag genau genommen auf einem reduzierten Alphabet basiert, einer Abneigung gegen t, p und k etwa und einer Vorliebe für d, b und g. Und seit sie es weiß, hört sie es auch. Jemand von der Marburger Universität hat einen Vortrag gehalten über die Mundarten der Umgebung und dabei ein Wort benutzt, das Anni Schuhmann seitdem nicht mehr aus dem Kopf geht: Binnenhochdeutsche Konsonantenschwächung. Es klingt, findet sie, wie eineAlterserscheinung, kommt aber auch bei jungen Leute vor, und davon abgesehen berührt es sie seltsam, dass die Art, wie man in Bergenstadt eben spricht, auf einer Schwächung beruhen soll. Von was denn?
    Im Übrigen sieht sie Lars Benner nicht an, dass es was Neues gibt, sondern redet nur so mit ihm wie immer.
    »Bergenstadt bleibt Bergenstadt, aber’s singt und lacht nur alle sie’m Jahre«, sagt der.
    »Gell. Das ist ja das Einzigartige.« Und nicht etwa das Einsichaadige. Noch einmal wischt sie mit dem Lappen über die längst saubere Theke. Die letzte Stunde vor Ladenschluss geht langsam vorüber, so als würde die Zeit versinken in diesem honigfarbenen Abendlicht.
    »Erst mal abwarten, wem sie die großen Ämter zuschanzen.«
    »Haben denn noch nicht alle gewählt jetzt?«
    Er lässt sich Zeit, rührt noch einmal in seinem Kaffee und schaut in seine Tasse wie Mohrherr drüben in den frühen Abend.
    »Bei manchen fehlt noch der dritte oder vierte oder sonst wer im Vorstand. Wie immer: Alle woll’n den hier …« Mit der Rechten kippt er sich ein unsichtbares Bierglas in den Mund. »Aber die Arbeit will keiner machen.«
    »Und du?«
    »Schriftführer, wie letztes Mal. Un die Webseite mach ich angeblich mit jemandem zusammen. Mehr geht nich. Mein Tag hat auch nur füm’zwanzich Stunden.« Er klopft auf seine Computertasche und verzieht den Mund zu einem Schmollen, genau wie damals, als Heinrich ihn gefragt hat, ob er denn auch bereit sei, die größere Hälfte von einer Mark für seine Nussecke zu bezahlen.
    Statt ihm wie früher mit der Hand durch die Haare zu fahren, nimmt sie die Messer aus dem wassergefüllten Einsatz in der Theke und legt sie hinter sich in die Spüle. Eine der Wespen klebt tot am hölzernen Griff des Brotmessers. Aus dem Stechen in ihrer Hüfte wird ein taubes Gefühl. Sie will Lars Bennergerade nach einem Artikel fragen, den sie am Morgen im Boten gelesen hat, da erklingt hinter ihrem Rücken die Glocke über der Ladentür, und als sie sich umdreht, steht ihr Neffe vor der Theke und lächelt ihr zu.
    »Ach, schau an!«, ruft sie. »So eine Überraschung!«
    Mit leisen Schritten ist er hereingekommen und sagt zur Begrüßung:
    »Gut siehst du aus, Tantchen.«
    Tatsächlich bringt sein Blick sie dazu, einen Moment lang verlegen an dieser lächerlichen Schürze zu zupfen, als sie um die Theke herumgeht und sich auf die Zehenspitzen stellen muss, um ihn auf die Wange zu küssen.
    »Tach, Herr Weidmann«, sagt Lars Benner.
    Und er riecht gut; riecht so, wie er ist: eher weltmännisch als bergenstädtisch.
    »Geht’s dir gut, mein Lieber? Trinkst du einen Kaffee?«
    Thomas dreht den Autoschlüssel in der Hand, wendet den Kopf kurz nach links, aber Lars Benner scheint er kaum zu bemerken. Trotz der Wärme draußen trägt er ein Sakko überm Hemd und nickt dieses stille Lächeln in ihre Richtung. In Bergenstadt gibt es Leute, die ihren Neffen für einen halten, der sich für was Besseres hält. Ihr gegenüber sagt es keiner, aber sie weiß es trotzdem und stellt mit einem protestierenden Kopfschütteln Tasse und Milchkännchen vor ihn auf die Theke. Verschlossen ist er. Sieht einem manchmal nicht in die Augen beim Sprechen, so als würde er kaum hinhören, hält nur den

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