Grenzgang
liegt in diesem Licht. Vor wenigen Tagen sind die letzten großen Frühjahrsregen heruntergekommen, gestern sah der Himmel aus wie ein aufgewühltes Meer, und heute scheint die Sonne und macht der Stadt ihre Versprechungen: lange Tage, laue Abende, den Geruch von Kartoffelbrott und Geselligkeit, den prall gefüllten Sommer vor Grenzgang.
… Grenzgang – sie nickt. Das ist es wohl, worauf ihre Gedanken hinauswollten.
Anni geht zur Ladentür und stellt sich in den offenen Eingang, blickt die Bachstraße hinauf und über die Rheinstraße hinweg auf den schmalen Ausschnitt des Marktplatzes, den sie von hier aus sehen kann: das Kopfsteinpflaster und den Rand des Brunnens, den Eingang der Schlossapotheke. Auch da ist dieses Licht und spielt in den Blättern der Linden. Wenn sie die Augen schließt, hört sie von weit weg die Musik des Spielmannszugs, das Getrappel der Hufe auf dem Kopfsteinpflaster, das Peitschenknallen, die gespannte, feierliche, summende Stille über tausend Köpfen und das Flappen der Fahnen in der Morgenluft. Leise Geräusche, die langsam näher kommen: Ein Anschwellen in der Luft, ein Vibrieren des Bodens, und im nächsten Moment wird daraus ein Wirbel, der sie zurückzieht durch die Jahre, die sich wie Blätter von Herbstbäumen lösen und an ihr vorüberfliegen …
Aber bevor der Wirbel sie ergreift, öffnet sie die Augen und blinzelt in den Abend. Hinter Bambergers Bürofenster ist eine Bewegung, die sie nur erahnen kann hinter dem Anprall von Licht auf der Scheibe, während schräg gegenüber Mohrherr aus seiner Hofeinfahrt tritt, sich die Hosenträger stramm zieht und ihren Gruß entgegennimmt mit einem forschen Nicken.
»’s wead werra Somma«, ruft sie hinüber, im Windschatten eines vorbeifahrenden Wagens.
»’s wead oach Zeid.« Der grantelnde Tonfall Bergenstädter Herzlichkeit, der noch einmal Gnade vor Recht ergehen lässt.Mohrherr steht zufrieden auf dem Bürgersteig und hält Ausschau nach bekannten Gesichtern. Fährt mit beiden Daumen die Hosenträger rauf und runter. Steht da, denkt Anni Schuhmann, wie ein König, der gerade nicht weiß, wo sein Volk hin ist. Mit der Hand wischt er sich über seinen kahlen Schädel und beendet die Audienz.
Anni geht langsam zurück in den Laden und tauscht ihre Schürze mit dem alten, kaum noch lesbaren Schuhmann-Schriftzug gegen das, was sie ihren Fummel nennt: ein rotes kurzes Teil mit gelben Lettern, die vorgeschriebene Uniform für den Verkauf von Scharnwebers Massenware. Kopfschüttelnd schlüpft sie hinein und wackelt mit der Hüfte, so als probierte sie vor dem Spiegel ein ihrem Alter nicht ganz angemessenes Kleidungsstück. Ein Mal hat Scharnweber sie eigens wegen der Schürze angerufen, hat an den Pachtvertrag erinnert und über das einheitliche Erscheinungsbild seines Unternehmens und den damit verbundenen Wiedererkennungseffekt doziert, und seitdem erwartet sie den roten Lieferwagen mit den gelben Lettern in diesem rot-gelb-kurzen Fummel, morgens um sechs und abends um sechs, auf dass Scharnwebers Handlanger dem Brötchen-Paten berichten können, dass die Einheitlichkeit des Erscheinungsbildes auch in der widerspenstigen Schuhmann-Filiale gewahrt wird.
Heinrich hat den Pudding für die Plunderteilchen noch eigenhändig auf dem Herd angerührt – sie ärgert sich immer noch, nie den Schneid besessen zu haben, Scharnweber das ins Gesicht zu sagen.
Als sie wieder nach draußen blickt, kommt Lars Benner die Bachstraße herunter, die Computertasche mit dem Schriftzug des Boten schräg über Schulter und Oberkörper gehangen, so wie Kindergartenkinder ihre Frühstückstaschen tragen. Wie immer bleibt er vor dem Schaufenster der Videothek stehen und sieht auf die Uhr, als würde er jeden Tag neu überlegen: Erst Bäckerei oder erst Videothek, dann überquert er die Straße und verschwindet für ein paar Sekunden aus ihrem Blickfeld, aberanhand von Mohrherrs Kopfbewegung im Fenster gegenüber kann sie seinem Gang folgen, und als er durch die Ladentür tritt, hat sie die rote Papiertüte mit den gelben Lettern schon in der Hand und zwei Vollkornbrötchen und eine Nussecke hineingesteckt.
»Tach, Frau Schuhmann.« Das sagt er immer so, obwohl sie einander duzen.
»Tag, Lars. Wie immer, gell?«
»Wie immer. Und wenn’s noch Kaffee gibt …«
Sie stellt ihm die Tasse auf die Theke und muss lächeln über die Art, wie er seine Brille abnimmt und mit dem Bund des Pullovers putzt, die Augen zusammengekniffen, genauso wie er es schon als
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