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Grenzgang

Grenzgang

Titel: Grenzgang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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im Rasthof aufzusuchen, und Weidmann sah ihnen nach, Vater und Tochter, Mutter mit Sohn. Es war ihm nie gelungen, eine Vorstellung von sich als Familienvater zu entwickeln: beim Vorlesen von Geschichten am Bettrand, der Kontrolle von Hausaufgaben, der Planung eines Kindergeburtstags. Da war etwas in der Muskellosigkeit von Familienvätern, das ihm vorkam wie eine rote Clownnase oder eine Schürze mit Papa ist der Beste -Aufschrift. Wie ein Spritzer Ketchup auf der Brille.
    Schwachsinn!, hatte Konstanze dazu gesagt.
    »Vor Monaten, ja. Vor einer im Vergleich zu den zehn Jahren davor relativ kurzen Zeit. Und vielleicht ist mir die Tatsache in ihrer Endgültigkeit erst heute so richtig zu Bewusstsein gekommen. Oder vielleicht wird sie mir erst in den nächsten Tagen und Wochen so richtig zu Bewusstsein kommen, wer weiß.«
    »Soll das eine Warnung sein?«
    »Ich hab keine Lust, dir was vorzuspielen. Der Optimismus, den du von mir verlangst, ist gerade nicht verfügbar.« Er stellte sich auch ehelichen Sex öde vor: Müde, missionarisch, monatlich. Beim Stichwort Familie nahm er alle Stereotype für bare Münze, auch wenn zum Beispiel Kamphaus alles andere als ein Weichei war.
    »Was mich ärgert, ist alleine deine Weigerung, dir helfen zu lassen – wie oft ich schon versucht habe, dir das zu erklären. Ich kenne deine Theorie vom weiblichen Helfersyndrom, du hast einige Theorien, die mit deiner Intelligenz eigentlich unvereinbar sind, aber vielleicht hast du in diesem Fall sogar Recht: Ja, es verletzt mich, dass deine berufliche Krise zu unserer Beziehungskrise wird …« – sein scharfes Einatmen bei diesem Wort überging sie einfach –, »ohne dass du auch nur die Möglichkeit in Betracht ziehst, wir könnten das gemeinsam meistern. Ich durfte einen Monat lang dein schiefes Gesicht ertragen, bevor ich auch nur in Kenntnis gesetzt wurde, dass dein Vertrag nicht verlängert wird. Wenn ich Vorschläge mache, die deine Zukunft betreffen, also konstruktive Vorschläge, setzt du eine Miene auf, von der ich nur hoffen kann, dass deine Studenten ihr im Seminarraum nie begegnet sind.«
    »Ich habe mich für die verspätete …«
    »Entschuldigt, ja. Aber mit deinen Entschuldigungen könnte ich mittlerweile mein Bad kacheln. Ich bin als Kind mal zu meiner Mutter gegangen und habe gesagt: Mama, ich entschuldige mich für die nächsten zehn schlimmen Sachen, die ich tun werde. Ich konnte damals nicht verstehen, dass sie das nicht angenommen hat. Es war doch ein aufrichtiges und obendrein großherziges Angebot.«
    »Du sprichst in Rätseln.«
    »Ich spreche in Großbuchstaben.«
    Sein Telefon kam ihm vor wie ein aufgedrehtes Überdruckventil. Er bereute seinen Anruf nicht, wünschte aber, ihn zu beenden. In der Tat hatte er Konstanzes Hilfe nicht in Anspruch genommen, nicht aus Stolz oder falsch verstandenerMännlichkeit, sondern weil ihre Hilfsbereitschaft die Tatsache überging, dass hier ein gesamter Lebensentwurf, und zwar sein gesamter Lebensentwurf, zu Bruch ging und dass das keine Kleinigkeit war, der sich mit ein bisschen Zuversicht und positivem Denken beikommen ließ. Sie verstand diese Identifikation mit einem Beruf nicht, Konstanze kannte nur Jobs. Du kannst ebenso gut was anderes machen, hatte sie zu ihm gesagt, und das war der Punkt, an dem sich ihre gedanklichen Wege trennten und von wo sie nicht mehr zueinander zurückfanden: Er konnte nicht ebenso gut was anderes machen. Er würde etwas anderes machen müssen, aber er würde außerdem bis ans Ende seiner Tage damit zu leben haben, dass seine Berufswahl – die weder Karrieresucht noch Bequemlichkeit, noch Zufall, sondern die Leidenschaft für eine Sache bestimmt hatte – fehlgeschlagen und er kein Historiker mehr war, nicht mehr im Vollsinn des Wortes. Das wurmte ihn, verdammt noch mal, und würde ihn noch länger als ein paar Monate wurmen, und jede Hilfsbereitschaft, die von der Prämisse Arbeit ist gleich Arbeit ausging, war keine Hilfe, sondern die unausgesprochene Forderung, die letzten zehn Jahre der Hingabe an seinen Beruf zu entwerten, indem er ihn an den Nagel hängte wie einen abgetragenen Mantel.
    Was er selbst nicht verstand, war der Drang, zusammen mit dem Beruf auch alles andere an den Nagel zu hängen, das ganze abgetragene Leben – nicht im biologischen, sondern im biographischen Sinn. Außerdem bekam er allmählich Lust, selbst laut zu werden, aber stattdessen nahm er einen langen Schluck Bier, stieß auf am Hörer vorbei und fingerte mit der

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