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Grenzgang

Grenzgang

Titel: Grenzgang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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Balkontür, nahm Kissen und Decke von Jürgens Bettseite und legte sie im Flur vor die Badezimmertür. Nahm aus der Kommode ein Betttuch und legte es oben auf den Haufen. Dann ging sie nach unten.
    Zigarettenrauch zog durch die offene Terrassentür ins Wohnzimmer. Jürgen wandte ihr den Rücken zu und erzählte gerade von der Steigung auf dem ersten Wegstück morgen, dem Aufstieg zum Kleiberg.
    »Über vierzig Prozent. Da machen dann schon die Ersten schlapp«, sagte er, bevor er Schritte hinter sich hörte und sich umdrehte. Kurz begegneten sich ihre Blicke. Sie hatte sich vorgenommen, ihn zu mustern, nach Spuren in seinem Gesicht zu suchen, nach etwas, was ihn verriet, aber dann sagte sie nur »Hi« und stellte sich einen Meter neben ihn in die offene Tür und fragte ihren Bruder:
    »Hast du alles für heute Nacht? Ich leg mich jetzt hin.«
    »Bin versorgt.« Die Flasche war schon zur Hälfte leer, aber sein Blick so klar wie bei seiner Ankunft am Nachmittag.
    Geschmust, dachte sie. War das nicht, was Mütter undSöhne taten, ohne an irgendwem Verrat zu üben? Was fiel ihrem Mann ein, alles in den Dreck zu ziehen und auf Parkbänken mit Teenagern rumzumachen, als wäre er selbst noch einer? Und erst jetzt fiel ihr auf, dass Daniel ›die Frau‹ gesagt hatte, als wüsste er längst, um wen es ging und was gespielt wurde. Ihr neunjähriger Sohn, der schon Bescheid wusste, als sie noch verzweifelt versucht hatte, Jürgens Betrug durch Selbstbetrug zu unterstützen.
    Sie sah ihm ins Gesicht, als erwartete sie Lippenstiftspuren auf seinen Wangen zu finden.
    »Willst du deinem Sohn noch Gute Nacht sagen?«
    »Lass es lieber«, sagte Hans. »Der Kleine ist heute …«
    »Halt den Mund, Hans. Du verstehst nichts von Kindern.« Den Blick hielt sie auf das Gesicht ihres Mannes gerichtet, registrierte nur aus den Augenwinkeln, wie ihr Bruder die Schultern zuckte und das Glas zum Mund führte. Sie musste schnell wieder nach oben, dieses Schwindelgefühl wurde immer stärker.
    »Nein, lass ihn schlafen. Ich komm auch gleich hoch.« Hätte er ihren Blick erwidert, sie wäre bereit gewesen – für den Moment jedenfalls –, an die Möglichkeit eines Irrtums zu glauben, wäre nach oben gegangen und hätte sein Bettzeug wieder zurückgeräumt. Hätte schlecht geschlafen und um des lieben Friedens Willen drei Tage lang gelächelt. Aber er sah in die Nacht. Sie nickte und ging, zählte drei Schritte, vier, fünf, sechs. Blieb stehen.
    »Du – schläfst heute Nacht auf der Couch.« Dann ging sie weiter, die Treppe hinauf.

    Meter für Meter kämpften sie sich den Marktplatz hinab, Daniel zerrte, und sie folgte, und manchmal kam es ihr vor, als würde sie von ihrem Sohn durch einen bösen Traum gezogen. Ein paar vereinzelte Regentropfen fielen. Kerstin hoffte, ein Platzregen werde niedergehen und die Menge auseinandertreiben, den ganzen Grenzgangsaufmarsch einfach fortspülen. Sie wollte nach Hause und schlafen. Daniel zog an ihrer Hand wie ein Hund an der Leine.
    Die Musik setzte wieder ein, polterte vor ihnen den Gartenberg hinab. Kerstin erkannte Evi Endler, und die hob die Hand und winkte ihnen von einem kleinen freien Platz neben der Imbissbude.
    »Wo wollt ihr denn hin?«
    »Mein Sohn will was sehen.«
    »Von hier sieht man bestens.« Sie hielt Tommy auf dem Arm, der reckte den Kopf, versuchte um die Ecke den Gartenberg hinaufzuschielen.
    Dann standen sie endlich, Daniel ließ ihre Hand los und kletterte auf einen metallenen Mülleimer.
    »Halt dich gut fest. Guten Morgen. Hallo Tommy.« Ein Schweißtropfen rann ihren Rücken hinab. Sie hielt ihr Lächeln auf dem Gesicht, während sie Tommy durchs Haar fuhr, nahm den Rucksack ab, atmete tief durch.
    »Ganz schön früh für eine Familie, was?« Evi Endler stand auf den Zehenspitzen und hatte vor Aufregung rote Wangen. Ihr schmales Gesicht war weder hübsch noch hässlich, sondern auf liebenswerte Weise unauffällig. Die Regenjacke hatte sie sich um die Taille gebunden. Je näher die Musik rückte, desto aufgeregter wurde sie.
    »Gleich, Tommy-Schatz, gleich siehst du deinen Papa mit der Fahne.«
    Daniel klammerte sich an einen Laternenpfahl wie an den Mast eines Segelschiffes.
    »Willst du was trinken, Daniel?« Sie bekam keine Antwort und hatte auch nur gefragt, um neben Evi Endlers allzeit Liebe und Besorgnis verströmender Mütterlichkeit nicht herzlos zu wirken.
    »Da kommen sie!« Mit einem Hüpfer registrierte Evi die Ankunft der beiden Reiter an der Einmündung des

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