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Grenzgang

Grenzgang

Titel: Grenzgang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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auseinandersetzen, und sie konnte nur hoffen, dass wenigstens Jürgen bald nach Hause kam. Den ganzen Abend hatte sie kaum ein Wort mit ihm geredet, ihn nur dann und wann beobachtet vor dem Hotel Kronert, wie er auf Schultern und Tische klopfte, mit Hinz und Kunz anstieß, über dies und das lachte, wie er sich auf so banale Weise wohl fühlte, dass sie bald nicht mehr gewusst hatte, ob er ein oberflächlicher Mensch oder sie eine an ihrer eigenen Missgunst erstickende Kröte war. Warum ließ sie ihm nicht sein harmloses Vergnügen? Andere richteten ihre vom Familienleben angekratzte Männlichkeit durch die Anschaffung von Motorrädern auf, heizten am Wochenende durch die engen Kurven des Ederberglandes, brachen sich das Genick oder wurden lebenslänglich zu Pflegefällen. Jürgen zwängte sich lediglich alle sieben Jahre für drei Tage in eine Uniform – die ihm gar nicht schlecht stand –, band sich einen Säbel um und führte mit ein bisschen Rum-ta-ta seine Rheinstraßenmänner durch den Wald.
    »Ich hab Papa gesehen auf der Bank.« Daniel sagte das so leise und immer noch in ihre Achselhöhle hinein, dass sie für einen Moment glauben konnte, er habe eigentlich gar nichts gesagt.
    »Ist gut, Daniel. Du musst jetzt schlafen.« Ihr Blick wanderte durch den Raum, die Wände entlang über Kinderposter und Regale mit Büchern und Spielsachen, über den ständig überfüllten Schreibtisch, auf dem Daniel durchführte, was er seine ›Experimente‹ nannte: Steine, die wochenlang in offenen Wassergläsern gelagert wurden; getrocknete Blätter und kleineHolzstücke, aus denen er ›Kohlenstickstoff‹ zu gewinnen hoffte; Muscheln aus dem Sommerurlaub, an deren scharfen Kanten sich Playmobil-Männchen ernsthafte Verletzungen zuzogen. Er hatte seinen Vater auf der Bank gesehen, so einfach war das. Ein einzelnes Puzzlestück, rein zufällig das letzte noch fehlende, das sie nur noch an seinen Platz legen musste, um das fertige Bild zu betrachten, aber dazu war sie in diesem Moment nicht in der Lage. Jürgen konnte jeden Moment nach Hause kommen. Sie zog Daniel näher zu sich heran, aber es half nicht.
    »Auf der Bank beim Wehr. Ich hab ihn mit der Frau gesehen.«
    »Schschsch«, machte sie und kam sich selbst schäbig vor. Gerade jetzt, da ihr Sohn endlich aussprach, was in ihm wütete, versuchte sie ihn zum Schweigen zu bringen. Tränen waren so wenig eine Entschuldigung wie ihre Müdigkeit. »Schschsch«, machte sie noch einmal. Ihre Füße wurden immer kälter. Sie nahm Daniel in den Arm, dessen Hitze auf der Stirn vielleicht nur dem Eindruck der Kälte ihrer Hände entsprang.
    »Die haben geschmust.« Sie war ihm dankbar, dass er sich von ihrer Feigheit nicht vom Reden abhalten ließ. Ihr Sohn eben. Unten hörte sie die Haustür und das Geräusch von Jürgens Schlüsseln auf der Flurkommode. Sie überlegte, einfach liegen zu bleiben, bis sie selbst einschlief.
    »Und hat er dich auch gesehen?«, fragte sie.
    »Weiß ich nicht. Ich bin weggelaufen.«
    Oder sollte sie nach unten gehen und ein paar Gegenstände zerschmeißen? Wie so oft empfand sie ihre Wut zuerst als den Reflex, den sie in ihr auslöste: den Drang, leise und kalt zu lachen. Sie gab Daniel einen Kuss auf die Stirn und dachte: Eigentlich hab ich es die ganze Zeit gewusst.
    »Lasst ihr euch jetzt scheiden?« Er war mit seinen Gedanken schon wesentlich weiter als sie.
    »Daniel, ich weiß nicht, was Papa gemacht oder was er sich dabei gedacht hat oder was wir jetzt als Nächstes tun werden. Das sind Dinge, die kann man nicht an einem Abendentscheiden. Da muss man viel reden, und jetzt, wo Grenzgang ist, hat dein Papa dafür keine Zeit.«
    »Vielleicht hab ich mich verguckt«, sagte er.
    »Nein, hast du nicht. Vielleicht hab ich mich verguckt, vorher. Jetzt kannst du nur eins machen, nämlich schlafen. Wer zwölf Kilometer laufen will, muss gut ausgeruht sein.«
    »Fünfzehn Komma vier Kilometer.«
    »Gute Nacht jetzt.« Sie küsste ihn noch einmal und stand auf, löschte das Licht neben der Tür und verließ den Raum, ohne sich noch einmal umzudrehen. Sie spürte, wie es begann: Dieses Gefühl, als würde die Welt von ihr abrücken, eine Gasse bilden, durch die sie mit leichtem Schwindelgefühl ging, als wäre sie betrunken. Der Flur war dunkel, nur von der Treppe drang Licht nach oben. Hans und Jürgen unterhielten sich draußen auf der Terrasse. Alles schien normal. Ein leichtes Pulsieren in den Schläfen. Sie ging ins Schlafzimmer und öffnete die

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