Grenzgang
seinem Podest, als hätte ein Baukran ihn am Morgen dort hinaufgehievt. Der meinte das ganz ernst. Und dennoch: Beschrieb er etwas, was er genauso empfand, oder beschwor er etwas, was er wie alle anderen zu empfinden wünschte und wovon er sich nicht eingestehen konnte, dass es ein Wunsch war, der weder heute noch in sieben, vierzehn, achtundneunzig oder hundertfünf Jahren in Erfüllung gehen würde? In seinen Satzpausen ertönte das Flappen der Fahnen in der Morgenbrise. Gedämpfter Motorenlärm erinnerte daran, dass im Industriegebiet der Arbeitstag begann. Was für ein Schauspiel führen die hier auf, dachte sie.
»Was wir mit diesem Wort ›Tradition‹ bezeichnen – könnte man es nicht auch als den Pulsschlag bezeichnen, den wir alle in uns fühlen, wenn wir die Musik der Kapellen und das Peitschenknallen der Wettläufer hören? Ist es etwas anderes als dieSumme der Arbeiten und der Freuden, mit denen wir das Fest seit Monaten vorbereiten – so wie es andere vor Jahren und Jahrzehnten vorbereitet haben? Ist Tradition also nicht, was man oft unter ihr versteht, das bloß Vergangene, das heute nur noch gepflegt wird? Weil schließlich niemand sich vorwerfen lassen möchte, ungepflegt zu sein …« Noch einmal war hier und da ein Lachen zu hören. Kerstin fühlte sich plötzlich schläfrig. Sie glaubte kein Wort, aber ihr gefiel, was sie hörte. Sollte man in Bergenstadt etwa aufhören, Grenzgang zu feiern, nur weil es für die eine oder andere Ehe von Vorteil wäre? Der Bürgermeister sprach auch nicht so, als wäre ihm daran gelegen, seinen Zuhörern ein wohliges Kribbeln zu verschaffen, sondern als hätte er sehr lange und gründlich nachgedacht und präsentierte nun das Beste, was ihm dabei eingefallen war.
» … und darum, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, liebe Bergenstädterinnen und Bergenstädter, feiern wir auch den Grenzgang in diesem Jahr so, wie wir es immer getan haben. Ich danke allen, die durch ihren Einsatz während der Vorbereitungszeit die Durchführung ermöglicht haben, und ich wünsche uns allen einen fröhlichen Grenzgang 1999.« Der Bürgermeister machte eine Pause, und sein Luftholen rauschte wie eine Windböe durch die Lautsprecher. »Der Grenzgang 1999, er lebe …«
»HOCH!«, hallte es in einer Lautstärke über den Platz, dass Kerstin zusammenzuckte.
»Er lebe …«
»HOCH!«
»Er lebe …«
»HOCH!« Aus tausend Kehlen erklang der Ruf, eher entschlossen als begeistert, und hallte zwischen den Marktplatzfassaden nach, als würden die Häuser sich unter dem plötzlichen Luftdruck nach hinten biegen. Wollt ihr den totalen Grenzgang?, dachte sie und ärgerte sich über sich selbst. Warum konnte sie nicht aufhören mit diesem sinnlosen Spott? Applaus brandete auf, die Menge regte sich. Rucksäcke wurden auf die Schultern genommen, die letzten Schirme zusammengerollt. Und geradeals Kerstin glaubte, nun werde das Kommando zum Abmarsch gegeben, erklang unerwartet die Nationalhymne.
»Einigkeit und Recht und Frahaheit …« Der Text war zwar bekannter als der des Trauermarsches zuvor, aber trotzdem wurde die Hymne eher pflichtschuldig abgesungen als inbrünstig intoniert. Um sich herum sah Kerstin ein paar Grenzgänger, die sich plötzlich für ihre Schuhe interessierten. »… für das deutsche Vateherlaaand.« Die Jüngeren schnitten Grimassen oder zuckten die Schultern, andere beteiligten sich wie an einer von oben angeordneten Unanständigkeit. »Danach lasst und alle streheben, brüderlich mit Herz uhund Haaand.« Hier und da sangen Leute mit gleichgültiger Unbefangenheit, und alleine ein dicker Mann mit Bürstenhaarschnitt und Bernhardinergesicht stand vorne auf dem Podest und schmetterte aus voller Kehle mit: »Blüh im Glahanze dieses Glühückes, blüehe deuheutsches Vateherland.« Dann war es vorbei, das Lächeln kehrte zurück auf die Gesichter, Kerstin sah die Wettläufer in Position gehen, der Bürgeroberst trat noch einmal vor die aufgestellten Gesellschaften und rief:
»Bürger und Burschen, stillgestanden! Das Geweeeehr über! Grenzgang: Marsch!« Damit ging es endlich los: Wie von selbst formierte sich der Zug, der Mohr tanzte vorneweg, Reiter und Gesellschaften reihten sich ein, und die Mitglieder des Komitees verließen die Bühne. Kerstin beobachtete den Bürgermeister, der noch einen Moment lang vor seinem Pult stand und die Blätter seiner Rede einsammelte; ein untersetzter Mann, der wie ein berufsmüder Klassenlehrer seine Sachen zusammensuchte,
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