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Grenzgang

Grenzgang

Titel: Grenzgang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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links, um in ein bereitgehaltenes Mikrofon zu sprechen:
    »Guten Morgen, Bürger.«
    »Guten Morgen, Herr Oberst!«, hallte es ihm entgegen.
    »Reiter eingetreten!«, verfügte der Oberst, und unter den Reitern entstand Bewegung, alle Pferde platzierten sich vor den Fahnen ihrer Gesellschaften.
    »Bürger und Burschen, stillgestanden!« Was auch prompt geschah. Kerstin wunderte sich, dass niemand lachte. »Das Geweeeehr über! Präsentiiiiiert, das Gewehr!« Unter lautem Rasseln und alles andere als synchron wanderte eine Reihe silberner Melonenschäler von uniformierten Schultern und senkte sich mit der Spitze gegen den Asphalt. Zur Totenehrung, hatte Jürgen ihr erklärt, aber warum die Toten sich geehrter fühlen, wenn man einen Säbel gegen alle Evidenzen als Gewehr bezeichnete, war auch ihm nicht klar gewesen. Tradition, die Antwort auf so vieles in diesen Tagen.
    Die Fahnen wurden ebenfalls nach vorne geneigt. Über die Köpfe hinweg sah Kerstin, wie ein Kranz zum Komitee getragen wurde, dann stimmte die Kapelle neben dem Podest eine traurige Melodie an.
    Zum ersten Mal an diesem Morgen stieg so etwas wie Freude in ihr auf, unerwartet und ein wenig geschmacklos. Asche zu Asche. Sie summte der unbekannten Melodie hinterher, derenText offenbar nur einer Minderheit der Bergenstädter geläufig war, jedenfalls klang der Gesang dünn in der morgendlichen Luft. Andächtige Stille folgte dem letzten Ton, bis erneut der Oberst einen Befehl ins Mikrofon brüllte:
    »Das Geweeeehr über! Geweeeehr ab! Rührt euch!«
    Kerstin folgte den Blicken der Menge, die sich auf das Podest mit den Offiziellen richteten. Bürgermeister Grollmann war einen Schritt nach vorne getreten und breitete eine Mappe auf dem bereitgestellten Pult aus. Ein vollbärtiger Gemütsmensch mit starker Brille.
    »Liebe Bergenstädterinnen und Bergenstädter, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, liebe Gäste aus nah und fern. Es ist wieder so weit: Wir feiern Grenzgang.«
    Erneut senkte sich Stille über den Marktplatz. Ein Schwarm Tauben tauchte über den Dächern auf und verschwand wieder. Kerstin legte die Hände um Daniels Hüfte, drückte ihr Kinn in seinen Rücken, bis er zu zucken begann, und war froh, als er stillhielt, ohne sie abzuschütteln. Sie hatte das Gefühl, zu viel nachgedacht zu haben an diesem Morgen. Wie eine Fremde stand sie inmitten von Tausenden anderer Grenzgänger, in der mit Händen greifbaren festlichen Gespanntheit, die nur darauf wartete, sich in Ausgelassenheit zu verwandeln, sobald der Zug losmarschierte. Ihren Mann konnte sie nicht mehr erkennen in der Reihe der Uniformierten. Wenige Meter vor ihr auf der Rheinstraße kackte ein Pferd.
    Was sagte der Bürgermeister?
    »… eine Tradition, in der sich die Verbundenheit ausdrückt zwischen gestern, heute und morgen, zwischen den Generationen, zwischen den Bürgerinnen und Bürgern einer Generation und schließlich die Verbundenheit einer ganzen Gemeinde zu ihrer Heimat und dem, was sie ausmacht: die Schönheit der Natur und die Herzlichkeit der Menschen. Wir feiern Grenzgang seit mehreren hundert Jahren, und wir werden auch noch in hundert Jahren – das heißt genauer: in achtundneunzig und dann in hundertundfünf Jahren – wieder Grenzgang feiern.«Der Bürgermeister ließ die kleine Heiterkeit verebben, zusammen mit dem von Lautsprechern verstärkten Echo seiner Stimme. Danach ballte sich die Stille über den Köpfen, als würde sie vom Himmel herab, aus Tausenden Kilometern freien Raumes ausgerechnet auf den Bergenstädter Marktplatz niedersinken. »Denn der Grenzgang ist die Vergegenwärtigung und die Feier all dessen, was wir als das Besondere an unserer Heimat empfinden, was wir bewusst pflegen, worauf wir stolz sind, was uns die Gewissheit gibt, dass wir Mitglieder einer Gemeinschaft sind, in der Mitglied zu sein sich lohnt.«
    Kerstin hörte dem Bürgermeister zu und erinnerte sich, wie sie Daniel als Baby durchs Haus getragen und die Nase auf sein flaumiges Kopfhaar gelegt und gedacht hatte, dass nichts auf der Welt so köstlich roch wie die Haut eines kleinen Kindes. Warum fiel ihr das jetzt ein? Weil sie nicht den Hauch einer Ahnung hatte, wovon der Bürgermeister eigentlich sprach. Was für ein Stolz war das? Worin bestand der Sinn für das Besondere? Und ob es sich lohnte, Teil dieser Gemeinschaft zu sein, schien ihr an diesem Morgen zweifelhafter denn je. Nicht, dass sie an der Aufrichtigkeit seiner Worte zweifelte, Grollmann stand so unerschütterlich auf

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