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Grenzgang

Grenzgang

Titel: Grenzgang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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weiter begann der eigentliche Grenzgang: Der Zug hatte die letzten Häuser von Karlshütte hinter sich gelassen und bog im rechten Winkel von der Bundesstraße ab, hinein in den Wald. Den Kleiberg hinauf. Aus meterlangen Baumstämmen waren zwei Treppen gezimmert worden, um den Wanderern das Überwinden des Straßengrabens und der steilen Böschung zu erleichtern. Dann ging die Kraxelei los. Es gab weder Weg noch Stufen, noch etwa ein Geländer auf diesen zwei Kilometern hinauf zum Kamm. Rufe hallten zwischen den Bäumen herab, die Spitze des Zuges war bereits auf halber Höhe, das Ende konnte Weidmann nicht erkennen, aber das Peitschenknallen klang weit weg, kam von der Höhe der Berufsschule oder noch weiter. Und immer noch waren seine Beine schwer von drei Stunden Halbschlaf im engen Auto und der anschließenden Fahrt.
    Er hatte seinen Wagen am Bürgerhaus abgestellt und sich unter die Menge auf dem Marktplatz gemischt, wortlos erstaunt angesichts des Spektakels. Leichte Sommerschuhe mit glatten Sohlen trug er, in denen man die Friedrichstraße entlangschlendern, aber nicht den Kleiberg besteigen konnte, dazu Flanellhosen, ein nicht mehr frisches Hemd, und das Jackett hatte er sich über die Schulter geworfen wie ein Museumsbesucher. Rings umher trugen alle Kniebundhosen oder groben Cordstoff, Wanderschuhe, manchmal Turnschuhe, Fleece- oder Regenjacken. Die Älteren hatten Stöcke dabei. Und vom Äußeren abgesehen: die Fröhlichkeit, der Gesang und die Hochrufe, die gute Laune in den unauffällig derben Gesichtern, all die Gemeinsamkeit – und er nicht. Drei oder vier Kilometer, vom Marktplatz durchden Ort und anschließend die Bundesstraße entlang nach Karlshütte war er mit dem Gefühl gelaufen, jeden Moment werde sich jemand zu ihm umdrehen und ihn höflich, aber bestimmt bitten, aus dem Zug auszuscheren. Nicht so zu tun, als gehöre er dazu.
    Seine Mutter hatte er noch nicht gesehen und wusste auch nicht, ob er bereit war, ihr unter die Augen zu treten.
    Vor dem Übergang in den Wald staute sich der Zug. Auf der anderen Straßenseite floss die Lahn am alten Preiss’schen Firmengelände vorbei, auf dem nur noch die Haupthalle stand, ein zweistöckiger Vorkriegsbau mit riesigen Fenstern, der von Weitem an einen verwaisten Bahnhof erinnerte. Drum herum wuchs Gras, kurz gemäht wie auf einem Sportplatz, unterbrochen von den hellen Steinfundamenten anderer, längst abgerissener Gebäude. Dahinter öffnete sich das Tal, Wiesen ruhten im Morgendunst, der Arnauer Friedhof streckte sich über einen sanften Hügel. Kühle rieselte den Kleiberg herab. Ein Polizeiauto hielt den Verkehr auf der B 62 an, zwei Sanitäter standen neben ihrem Wagen und sahen dem Zug zu. Die Luft roch nach Harz und Bier. Ein Reisebus wartete mit laufendem Motor, um die Mitglieder der voranmarschierenden Kapelle aufzunehmen und zum Frühstücksplatz zu fahren. Instrumente wurden eingepackt, Musikanten wischten sich die Stirn und ließen Flaschen kreisen. Ein Mann in Lederhose und mit krebsrotem Gesicht, die Tuba auf dem Rücken, stand neben der Bustür und rauchte.
    Jedes Mal sah er weg, wenn ihm in der Menge ein bekanntes Gesicht begegnete.
    Sofern es beim Grenzgang ums Wandern ging, war das hier der Höhepunkt: Tausende Wanderer kämpften sich auf dem noch feuchten Waldboden nach oben. Vierzig Prozent Steigung zwangen die meisten, mit ausgestreckten Armen nach Wurzelstücken und dünnen Baumstämmen zu greifen oder die Hände auf den Boden zu setzen. Wer nicht aufpasste, begann zu rutschen. Hier und da saßen die Ersten auf dem Hintern,während sportliche junge Männer bergan sprangen und ihren Freundinnen eine helfende Hand anboten. Nichts als ein flacher Graben, eine dunkle Scharte auf dem Waldboden markierte den Grenzverlauf. Überall wurde gelacht, gestöhnt, schwer geatmet. Mit entschlossenen Gesichtern setzten Senioren einen Fuß vor den anderen, stießen ihre Wanderstöcke in den Boden und machten sich gegenseitig Mut. Kinder hatten ihren Spaß.
    Wie die Wombatze, dachte Weidmann beim Anblick all der wackelnden Hinterteile. Er ließ die Holztreppe hinter sich und begann den Aufstieg, mit einer Hand das zusammengerollte Jackett haltend, die andere in Bereitschaft, nach dem nächstbesten Halt zu greifen. Bereits nach wenigen Schritten begann ein Ziehen in den Oberschenkeln, und zum ersten Mal an diesem Morgen war er amüsiert über seine eigene deplatzierte Erscheinung, seine akademische Unbeholfenheit angesichts der Herausforderung

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