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Grenzgang

Grenzgang

Titel: Grenzgang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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zieht sie eine Schachtel Pralinen aus ihrem Korb.
    »Das fehlte gerade noch. Ihr Tuch und den Mantel können Sie mir geben.«
    Das Kostüm, das Frau Preiss unter ihrem Sommermantel trägt, ist hell und klassisch geschnitten, wie eine schlichte Vase, an deren Form der Blick unauffällig hinaufgleitet zu der Blütenpracht darüber, den rötlich wallenden Dauerwellen.
    »Mutter, das ist Frau Preiss, hier aus der Nachbarschaft.«
    »So?«
    Mit dem Mantel noch in der Hand macht sie einen Schritt in die Diele hinein, die ihr plötzlich dämmrig vorkommt, erleuchtet nur von der Korblampe neben der Terrassentür und dem Licht, das aus der Küche hereinfällt.
    »Guten Abend und guten Appetit. Lassen Sie sich bloß nichtstören.«
    Kerstin beobachtet die Begrüßung und hofft, dass ihre Mutter wenigstens keine Essensreste an den Fingern hat und Frau Preiss die Dezenz besitzt, keinen Blick auf den Teller zu werfen. Am liebsten hätte sie sich diesen Mantel übergeworfen und wäre hinaus in den Abend gerannt, stattdessen nimmt sie den Korb und lächelt ihrer Mutter zu, die wie ein beschenktes Kind auf ihrem Platz sitzt, die runde Pralinenschachtel in den Händen, als wäre es ein Bilderbuch.
    »Prima«, murmelt sie dazu. »Ganz prima.«
    »Steht Ihnen sehr gut, das Rot«, sagt Kerstin.
    »Meine Tochter kam eines Abends etwas rotstichig aus dem Bad, und ich dachte: Wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Ist es nicht zu kräftig?«
    »Gar nicht.«
    »Wissen Sie, was meine Tochter gesagt hat: Warum willst du denn unbedingt wilder aussehen, als du bist? Frech, oder?« Sie hat, denkt Kerstin, etwas von einer jüngeren Frau an sich, in dieser Art, die Hände in die Hüfte zu stemmen und empört auszusehen, ohne es spielen zu müssen.
    »Für unsere Kinder ist nichts schwerer zu verstehen, als dass ihre Eltern auch mal jung gewesen sind«, sagt sie und weiß nicht, ob das die Antwort ist, auf die Frau Preiss gehofft hat. »Wollen Sie sich setzen, während ich rasch abräume?«
    »Danke. Mögen Sie überhaupt Rotwein?«
    »Sehr.« Sie verlängert ihr Lächeln eine Sekunde, breitet es wie ein Zauberkünstler über ihren Arm und lässt diesen Teller darunter verschwinden, den ihre Mutter sowieso vergessen hat. Von der Küche aus hört sie, wie Frau Preiss sich erbietet, beim Entfernen der Zellophanhülle zu helfen.
    »Durchblutungsstörung des Gehirns«, erwidert ihre Mutter. »Deshalb kann ich mir auch nichts mehr behalten, ja. Ich schreib alles auf.«
    »Müsste ich eigentlich auch, aber bei mir kommt zur Vergesslichkeit noch die Faulheit dazu. So, bitte.«
    Kerstin kippt die Essensreste in den Müll und wäscht sich die Finger, entfernt ein paar Erdreste unter den Nägeln mit der Geschirrbürste, sieht an sich hinab und zuckt die Schultern. Es spricht nichts dagegen, an einem Montagabend in der eigenen Küche Jeans und Strickpulli zu tragen. Und soweit sie es in der Küchenfensterscheibe ausmachen kann, ist ihr Haar in Ordnung.
    »Nein, danke«, sagt Frau Preiss in der Diele. »So spät lieber nicht mehr.«
    »Um halb zehn geh ich ins Bad, ja. Später nicht. Muss ja morgens früh raus und im Gemeindehaus mithelfen.«
    »Ah ja.«
    »Wenn Beerdigungen sind oder Basar. Der Pfarrer kann nicht alles alleine machen.«
    »Das ist … ja. Kann er wohl nicht.«
    »Kennen Sie eigentlich die Männer, die hier nachts immer herkommen?«
    »Bitte?«
    Natürlich! Kerstin eilt aus der Küche herbei und stellt sich wie ein Schiedsrichter zwischen die beiden Frauen am Tisch.
    »Mutter, du solltest dich bei Frau Preiss für die schönen Pralinen bedanken statt sie …« Fast augenblicklich spürte sie einen leichten Schweißfilm unter den Armen und ist Frau Preiss dankbar für ihr unauffälliges Abwinken.
    »Wir unterhalten uns, ja. Da muss ich doch wissen, mit wem ich’s zu tun hab.«
    »Mit Frau Preiss, die eine Straße über uns wohnt und so nett ist uns zu besuchen. Und dir was mitzubringen.«
    Frau Preiss’ Hände liegen perfekt manikürt in ihrem Schoß. Ihr Blick scheint die Veilchen in der Vase zu fixieren, so als spürte sie instinktiv, dass sich um diese Blumen ein Geheimnis rankt. Kerstin presst ein Lächeln in ihr Gesicht.
    »Wollen Sie gleich den Wein oder erst was anderes? Wasser? Einen grünen Tee?«
    »Der Wein muss ja atmen, sagt mein Mann in solchen Fällen.Ich nehm Ihnen das ab.« Mit der Käseplatte, die Kerstin gerade nehmen wollte, steht sie auf, unterbindet lächelnd Kerstins Protest und geht voran in die Küche.
    »Dann setz ich

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