Grenzgang
Fächern für morgens, mittags und abends, so als wäre die gerade neben ihr auf den Tisch gefallen. Öffnet den Deckel und schließt ihn wieder. Trinkt sie, bleibt ein Rand an der Tasse zurück, bei allem, was sie tut, scheint sie etwas zurückzulassen, und Kerstin denkt, dass das Alter weder tragisch noch grotesk ist, sondern vor allem eine Hinterhältigkeit der Natur. Und denkt, dass es bedrückend ist, das zu denken, nicht weil es stimmt, sondern weil solche Gedanken den Platz einnehmen, wo etwas anderes hätte sein sollen. Stattdessen dieser Lupenblick, als würde sie Läuse suchen im frisch gewaschenen Haar ihrer Mutter.
»Noch Tee?« Sie überwindet sich, die Hand auf den Handrücken ihrer Mutter zu legen und sich zu sagen, dass sie das keine Überwindung kostet. Sich zu sagen: Es ist schließlich meine Mutter.
»Ich will nicht so oft laufen.«
»Du weißt, was Doktor Petermann gesagt hat: mindestens zwei Liter am Tag.«
»Weißt du noch, wie Schmieds Wilhelm immer zu uns an den Zaun gekommen ist, wenn wir im Garten gearbeitet haben?«
»Ja.«
»Wollt’a Eia? Der hat immer so gefragt: Wollt’a Eia?«
Auf der Küchenuhr zerrinnen die Minuten, draußen fällt der Vorhang. Während ihre Mutter noch isst, räumt Kerstin trockenes Geschirr aus der Spüle. Sie kann diesem Gemümmel nicht zusehen bis zum Ende.
Bei Meinrichs geht die Außenbeleuchtung an und kurzdarauf wieder aus, und in der Diele sagt ihre Mutter:
»Sechzehn Grad waren’s auf der Fensterbank.«
Während sie ihre Silhouette im Küchenfester betrachtet, beschließt Kerstin, in den nächsten Tagen ihren Bruder anzurufen, der soll ihr ein paar Tipps geben für den Antrag auf Pflegegeld. Warum immer nur sie? Warum nicht der arme Hans, der seine Mutter genau so lange gepflegt hat, wie sie kein Pflegefall war, und der bei seinen seltenen Besuchen in Bergenstadt gute Laune um sich herum verbreitet wie eine Überdosis zu süßen Parfüms. Ansonsten schippert er am Wochenende mit seiner dritten Frau über den Biggesee. Warum nicht der?
An dem Schimmer, der plötzlich in die Einfahrt fällt, sieht sie, dass auch vor ihrer Haustür das Licht angesprungen ist.
»Och«, macht ihre Mutter, als es klingelt. »Das wird der Hans sein.«
Sie reibt sich die Hände an einem Trockentuch ab, während sie durch die Diele geht und sich sagt, dass es jedenfalls nicht Daniel sein kann. Es ist eine Frauengestalt, die sie durch das gelb gefärbte Milchglas der Haustür erkennt. Anita, denkt sie, die sich einen ihrer typischen Späße erlaubt und nicht aus Nizza, sondern aus ihrem kleinen roten Flitzer angerufen hat, kurz nachdem sie in Dillenburg von der Autobahn abgefahren ist. Anita, die Urheberin des ultimativen Kommentars zum Thema Selbstmitleid: Steig aus der Wanne, solange der Spiegel noch beschlagen ist.
Anita!
Sie spürt das Strahlen auf ihrem Gesicht, als sie schwungvoll die Tür öffnet, und sieht Frau Preiss eine überraschte Bewegung mit dem Kopf machen. Kühlfeuchte Abendluft weht herein. Mit dem Tuch, das Frau Preiss sich um die Haare geschlungen hat, sieht sie aus, als wäre sie gerade einem Cabriolet entstiegen. Lächelnd schwenkt sie einen Korb in der Armbeuge und sagt:
»Ich störe Sie doch nicht?«
»Gar nicht. Guten Abend.« Kerstin spürt einen Anflug von Atemlosigkeit in der Kehle. Der Rehsteig ist leer, schimmert im Licht der Laternen.
»Die ganze Woche schon duftet Ihr Flieder bei uns im Wohnzimmer, und ich dachte, ich revanchiere mich mal.« Mit einer Hand hebt Frau Preiss den Hals einer Rotweinflasche über den Korbrand.
»Aber das wäre doch … Kommen Sie rein. So ein bisschen Flieder.«
»Mein Mann ist sowieso bei seiner kubanischen Geliebten. Nein, natürlich nicht. In der Firma ist er, wo sonst.«
»Wir … also meine Mutter isst noch.«
»So unangemeldet hereinzuplatzen, Sie müssen mich wirklich entschuldigen.«
»Schön, dass Sie gekommen sind.« Für einen Moment legt sie Frau Preiss eine Hand auf den Arm, während sie mit der anderen zwischen den Jacken und Mänteln an der Garderobe nach einem freien Bügel tastet. Durch die offene Dielentür sieht sie ihre Mutter vor dem sitzen, was einmal ein Toast gewesen ist.
»Mitten beim Essen.« Frau Preiss schüttelt vorwurfsvoll den Kopf über sich selbst, zieht sich das Tuch vom Kopf und bringt ihr ehemals blondiertes, jetzt aber hennarotes Haar in Ordnung. »Wenigstens hab ich auch für Ihre Mutter was. Die hat doch kein Diabetes oder dergleichen, nein?« Mit zwei Fingern
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