Grenzgang
der Ehe verbunden ist. Am Telefon hatte der Anwalt noch gesagt: eventuell. Wie das gehen soll mit ihrer Mutter im Haus, wusste er spontan auch nicht zu sagen. Ob deren Pflegebedürftigkeit amtlich festgestellt sei?
Nein, hat sie gesagt, worauf der Anwalt ihr zu einem Antrag auf Pflegegeld riet. Erstens lasse der sich im Erfolgsfall gegen die Zumutbarkeit der Berufsausübung ins Feld führen und zweitens könne er eine etwaige Kürzung des Unterhalts abfedern. Im Sinne der Erhaltung eines moderat begrenzten Lebensstandards in nachehelicher Eigenverantwortung.
Das ist der Stand. Nur was ihren Sohn getrieben hat, in der Schule kleine Kinder zu erpressen, weiß sie immer noch nicht. Zum ersten Mal seit sie am Rehsteig wohnt, hat sie gestern seinen Abschied als Erleichterung empfunden. Ein leeres Haus ist leichter zu ertragen als diese gepresste Stille am Abendbrottisch. All das hat sie sich vorgenommen Weidmann zu erklären, nicht weil es zur Sache gehört, sondern weil es einmal aus ihr herausmuss und sie sicher sein kann, dass er es sich anhören wird, ruhig, mit diesem angedeuteten Nicken.
Aber sooft sie auch daran denkt, sie ruft ihn nicht an.
Der Käse auf dem Toast beginnt zu dunkeln. Auf den Boden des Ofens tropft der Saft der Tomaten. Trocknet und verkrustet.
Im Küchenkalender neben der Tür hat sie den Termin des Elternsprechtags markiert und vermeidet es seitdem, diesen anzusehen. Fragt sich lieber, ob es jetzt schon so weit mit ihr ist,dass sie eine Woche grübeln muss, bevor sie sich abmachungsgemäß bei einem Mann meldet, zu dessen beruflichen Pflichten es gehört, mit ihr ein Gespräch zu führen. Wegen eines einzigen kurzen Kusses vor sieben Jahren?
In der Essdiele klingelt das Telefon, und noch vor dem zweiten Ton hat sie den Hörer am Ohr. Rauschen schlägt ihr entgegen. Zuerst hört sie in unendlicher Entfernung eine Stimme wie aus einem Funkgerät, dann Anitas fröhlich forsches »Hallo?«.
»Ich bin dran«, sagt sie, kälter als sie klingen wollte. Die Uhr über dem Esstisch zeigt genau sieben. Auf der Anrichte beginnen die Veilchen sich über den Rand der Vase zu neigen, in einem Akt graziöser Unterwerfung unter die Herrschaft der Zeit. »Von wo rufst du an? Vom Mond?«
»Fast. Von da, wo demnächst der Mond ins Meer fällt. Und dann fiel mir gerade ein, dass du …« Ihre Stimme verschwindet hinter einem Geräusch, als würde tatsächlich gerade der Mond ins Meer fallen. »Wollte hören, wie’s dir geht?«
»Hörst du aber wahrscheinlich nicht, bei diesem Rauschen. Wo bist du?«
»In Nizza. Wenn du’s mir sagst, hör ich’s doch.« Ihre Stimme klingt aufgekratzt und champagnerlaunig, wie immer wenn sie von weit weg anruft, um Kerstin zu sagen, dass sie von weit weg anruft.
»Gut.« Mit einem Kugelschreiber kritzelt sie auf den Rand des Bergenstädter Boten . Alle Vorstände komplett, meldet die Überschrift in einem kleinen Kästchen auf der ersten Seite. Direkt neben dem Countdown zur Fußball-WM.
»Wie bitte?«
»Gu-hut.«
»Verstehe. Stör ich dich?«
»Ich mach gerade Abendessen. Wie geht’s dir so? Ist Karl der Große bei dir?«
»Im Geiste, manchmal. Schätzchen, im Sommer fahren wir mal zusammen her, das ist ein Traum mit der Bucht und denBergen. Ich stehe auf dem Dach von diesem Museum und rundherum badet alles in Licht. Halt dir im September ein paar Tage frei.«
»Klar.« In Anitas Stimme mischen sich schleifende Töne, und Kerstin hält den Hörer ein wenig vom Ohr, während sie die Diele durchquert, die Terrassentür kippt und mit dem freien Ohr Schritte im Zimmer ihrer Mutter hört. Die räumt endlich ihre Frisierutensilien in den Wandschrank. In Nizza badet alles in Licht. Aber zum Baden haben wir hier ja zum Glück die Badewumme, denkt sie.
»Hast du dir endlich eine Putzfrau genommen? Du musst dir öfter mal was gönnen, weißt du.«
»Nämlich? Einer Putzfrau bei der Arbeit zusehen?«
»Du könntest dir in der Zeit die Nägel machen lassen.«
Kerstins Atem bildet einen formlosen Fleck auf der Scheibe der Terrassentür, zieht sich Richtung Mittelpunkt zusammen und verschwindet.
»Tut gut, von dir zu hören«, sagt sie lahm.
»Es tut mir leid, dass ich dieses Jahr deinen Geburtstag vergessen habe. Es war der Tag, an dem wir abgeflogen sind, und ich hab morgens noch dran gedacht.«
»Und dann nicht mehr.«
»Ich mach’s wieder gut. Ein Geschenk hab ich jedenfalls losgeschickt.«
»Danke.«
»Wie geht’s deiner Mutter?«
»Sie ist alt.«
»Grüß
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