Grenzgang
sein?
»Sie hatten Hemd und Sakko an. Und Schuhe, wie kein Mensch sie zum Wandern trägt«, sagt sie schließlich mit einemTrotz in der Stimme, den er wahrscheinlich nicht verstehen kann, der ihr selbst aber anzeigt, dass sie offenbar nicht erleichtert ist.
Er nickt und macht eine Handbewegung, die nichts Bestimmtes bedeutet.
»Der Betreuer meiner Habilitation konnte mit der These auch nicht viel anfangen. Und das war auch schon das Ende der Geschichte.«
»Und dann sind Sie zurückgekommen nach Bergenstadt?«
»Das ist die Ironie der Geschichte.«
»Aber warum sind Sie hiergeblieben?«
In dem kurzen Moment erneuter Stille ist sie sicher, dass jetzt das Telefon klingeln wird, aber das Haus schweigt hinter ihnen aus offenen Fenstern und Türen, und das Licht im Garten nimmt die wärmere Farbe des späten Nachmittags an. Kerstin fährt sich mit den Händen über die Gänsehaut an ihren Waden. Mit Wohlgefallen stellt sie fest, dass er ruhige Augen hat, in einem Ton zwischen Braun und Grün; selbst wenn er nicht zu wissen scheint, wohin er schauen soll, liegt keine Hektik in seinem Blick, sondern die bedächtige Suche eines Menschen, der früher oder später schon wissen wird, was er will.
»Ich frage mich, ob ›Ich weiß es nicht‹ die ehrlichste oder die feigste Antwort wäre. Und ob es möglich ist, beides zu sein.«
»Sie schulden mir – um Sie mal zu zitieren – natürlich keine Erklärung.«
»Ich bin hiergeblieben«, sagt er, »weil sich beruflich die Möglichkeit ergeben hat und weil es sich für eine relativ kurze Zeit richtig angefühlt hat, diesen Bruch zu vollziehen. Ihnen stößt etwas zu, und statt sich dagegen zu stemmen, geben Sie der Veränderung nach, folgen ihr noch ein Stück weiter, als Sie gezwungen worden sind. Letztlich ein Versuch, die Hoheit über das Geschehen zurückzugewinnen, weil Sie am Ende an einem Punkt landen, zu dem Sie aus freien Stücken gelangt sind. Das Maß Ihrer Freiheit sozusagen. Es fragt sich aber, wie lange Sie sich nähren können von dem guten Gefühl, Ihr Schicksal selbstbestimmt zu haben. Oder anders gefragt: Wie lange ist die Halbwertszeit von Stolz?«
Zum Glück schafft er es, seinen Worten mit einem Lächeln ihr Gewicht zu nehmen, aber Kerstin ist trotzdem froh, als sich in der Diele das Telefon meldet.
»Gute Frage.« Im Aufstehen deutet sie mit dem Finger dahin, von wo das Klingeln kommt. ›Sie‹ hat er die ganze Zeit gesagt, als würde er nicht der Autor seines Schicksals, sondern der Deuter des ihren sein wollen. Kerstin nimmt den Hörer ab und die Mitteilung der Sprechstundenhilfe entgegen, dass ihre Mutter mit der Behandlung fertig sei und abgeholt werden könne.
»Zehn Minuten«, sagt sie. »Gibt es einen neuen Befund, den ich kennen müsste?« Ihre Stimme klingt widerwillig; nicht, als läge ihr das Schicksal ihrer Mutter sonderlich am Herzen.
»Ich denke, das wird der Doktor Ihnen dann sagen. Wenn Sie ein paar Minuten mitbringen.«
»Natürlich.« Sie verabschiedet sich und behält für einen Moment den tutenden Hörer am Ohr. Draußen steht Weidmann mit beiden Händen in den Taschen vor ihrem blühenden Hang und hält die Schultern, als stünde er Porträt. Kerstin legt auf und stellt sich in die Terrassentür.
»Es tut mir leid, aber ich muss los.«
Mit einem Nicken greift er nach seiner Jacke, und sie winkt ab, als er auf das Geschirr deutet.
Im Vorflur kontrolliert sie ihre Handtasche auf Führerschein und Krankenversicherungskarte. Für den Fall, dass Doktor Petermann sie darauf anspricht, wird es Zeit, sich ein paar Sätze zu überlegen, warum Zypiklon ihr noch für eine gewisse Zeit mehr nutzen als schaden kann. Den Hinweis auf das Suchtpotential wird er sich hoffentlich schenken, das kennt sie schließlich besser als er.
»Es bleibt also dabei«, sagt Weidmann von draußen. »Wir sehen uns beim Elternsprechtag. Dann ist die ganze Sache hoffentlich ausgestanden. Wenn Sie bis dahin Fragen haben oder Gesprächsbedarf – jederzeit.«
»Soll ich Sie ein Stück mit dem Wagen mitnehmen? Grünberger, richtig?«
»Ich dreh noch eine Runde oben im Wald.« Sein Kinn weist den Hang hinauf. Wenn alles anders wäre, denkt sie, würde sie ihm jetzt nicht Auf Wiedersehen sagen, sondern sich bei ihm unterhaken und eine Runde um den Rehsteig laufen, Joggern zunicken und mit der freien Hand über die hohen Gräser am Wegrand streichen.
»Danke, dass Sie so kurzfristig Zeit hatten.«
»Mit Vergnügen«, erwidert er.
Sie steigt in ihr von der
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