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Grenzgang

Grenzgang

Titel: Grenzgang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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nicht.«
    »Trinkbar.«
    Frau Preiss füllt die Gläser bis zum Rand, schiebt eins in ihre Richtung, hebt das andere und sagt: »Zum Wohl. Ich finde, wir hätten uns schon viel früher treffen sollen, aber in Bergenstadt bewegen sich die Dinge eben nur in den Grenzgangsjahren. Die sieben Jahre dazwischen …« Sie schnippt mit den Fingern.
    »Wir sind mal zusammen essen gewesen, wenn ich mich richtig erinnere. Zu viert.«
    »Und wissen Sie, was ich damals gedacht habe: Sie ist ihm überlegen. Wirklich, war mein Eindruck. Irgendwie menschlich überlegen.«
    »Das war klug beobachtet. Hatten wir jetzt schon getrunken?«
    »Nein. Tun wir sofort.«
    »Zum Wohl denn also.« Kerstin unterdrückt einen plötzlichen Drang zu kichern, nimmt ihr Glas und trinkt es zur Hälfte aus. Ein Aroma von Trauben, Feigen und einem Hauch von Zimt breitet sich aus in der Mundhöhle und kitzelt ihre Geschmacksnerven. Alles so angenehm voll und rund, dass sie nach dem Absetzen des Glases einen Moment lang mit dem Ausatmen zögert. Trauben, Feigen, Zimt – ist alles noch da.
    Auch Frau Preiss blickt auf ihr Glas, als hätte daraus ein Geist zu ihr gesprochen.
    »Na, heiliges Öchsle, würde mein Mann sagen. Der hat aber Charakter.«
    »Das will ich meinen. Da haben sich zehn Jahre des Wartens mal wirklich gelohnt.«
    »Und apropos: Finden Sie, dass ich meinen Mann zu häufig erwähne?«
    »Apropos was?«
    »Im Allgemeinen: Würde mein Mann sagen, hat mein Mann gesagt, wie ich meinen Mann kenne und so weiter. Mir scheint, ich sage das dauernd. Als ich bei Ihnen war neulich: Der Wein muss atmen, würde mein Mann sagen . Ist mir sofort aufgefallen, aber ich sage es immer weiter.« Eine seltsame Intensität liegt in Frau Preiss’ Blick, so als würde sie jedes Wort vor sich sehen, das sie ausspricht. »Warum sag ich nicht einfach: Der Wein muss atmen. Der Wein hat Charakter. Warum zitiere ich meinen Mann?«
    »Ich will ja nicht unverschämt sein, aber da Sie es eben selbst erwähnt haben: Nähern wir uns schon dem Wasser?« Kerstin versucht ihren Unwillen hinter einem Lächeln zu verbergen. Gespräche über Eheprobleme sind das Letzte, wonach es sie verlangt.
    »Nein, entschuldigen Sie. In letzter Zeit hab ich plötzlich diese Anfälle von Selbstüberwachung.« Karin Preiss lacht, stellt das Glas ab und kneift sich mit Daumen und Zeigefinger in die Stirn.
    »Wenn Sie weiter drauf achten, sind Sie die Angewohnheit bald wieder los. Mir ist es sowieso nicht aufgefallen. Aber wenn Sie möchten, sage ich ab jetzt jedes Mal Piep, wenn Sie Ihren Mann erwähnen.«
    »Aber bitte nur, wenn wir alleine sind.«
    »Natürlich. Und kann es sein, dass es sehr warm ist hier drin?«
    »Ja.«
    Einen Moment lang sehen sie einander an, als wüssten sie bereits, was kommen wird.
    » …würde mein Mann sagen.« Sie sagen es genau gleichzeitig, halten kurz inne, dann entgleisen mit der Synchronität von Spiegelbildern ihrer beider Gesichtszüge.
    Zwischen den Schläfen, wo sie Minuten zuvor noch das Gefühl der Trunkenheit vermisst hat, spürt Kerstin jetzt das Echo leichter Trommelschläge. Ein beständiges Ha-ha-ha. Es hat einen Zug ins Hysterische, aber sie lacht einfach darüber hinweg. Lacht die Befangenheit des Abends aus sich heraus. Mit Anita war es manchmal so, Anita stößt spitze Schreie aus, wenn sie lacht, das ist in der Öffentlichkeit oft peinlich gewesen, aber jetzt wünscht Kerstin, sie selbst würde noch viel lauter und heftiger lachen. Wie damals. Für einen Augenblick fühlt es sich tatsächlich an wie das Weiterlachen nach einer Pause, die ebenso arm an Bedeutung scheint, wie sie reich an Jahren ist. Sie kann nicht aufhören. Sie will nicht. Hinter einem Tränenschleier sieht sie Frau Preiss die Beine anziehen, sich eine Hand auf den Bauch halten und mit der anderen durch die Luft wirbeln, als hätte sie sich die Finger verbrannt. Sie hört ein Japsen und das quietschende Entweichen von Luft aus gepressten Lungen. Daniel hat als Baby so ein Lachen gehabt, und sie hat an sich halten müssen, ihm auf dem Wickeltisch nicht in einem fort den Bauch zu kitzeln, weil sie nicht genug kriegen konnte von diesem Geräusch und der rudernden Bewegung seiner Arme. Wann hat sie ihren Sohn zuletzt lachen gesehen? Ihre Mutter? Sie dreht sich auf die Seite, und dann muss sie sich anstrengen, ihre Bauchmuskeln stillzuhalten, durch die ein stechender Schmerz fährt, während vor ihr aufsteigt, was Karin Preiss ›das Wasser‹ genannt hat. Das Wasser, das ihr schon

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