Grenzgang
wo Sie ihn finden.«
»Verdient hättas.«
Kerstin konnte sich nicht wehren gegen den Gedanken, dass es vom Standpunkt dieser Andrea aus ein nachvollziehbares Bedürfnis war, das trotzige Kind mit der eingetrübten Brille irgendwo abzustellen und zu erkunden, wie es sich anfühlt, von einem Mann begehrt zu werden. Nicht trotz, sondern wegen des Altersunterschiedes. Sie hatte sie hier und da gesehen während der letzten beiden Tage und sich nicht dazu durchringen können, so etwas wie Hass zu empfinden. Ein junges Ding, hübschund sexy und sich dessen auf eine Weise bewusst, in der Kerstin mehr Neugier als Zufriedenheit vermutete. Ihr Freund stand ihrer Attraktivität wahrscheinlich wie etwas Heiligem gegenüber, das er beständig seiner Verehrung versichern musste, auch wenn er nicht umhinkonnte es zu entweihen. Unterwürfig und dankbar, mit gelegentlichen Kompensationsversuchen in herrischer Männlichkeit. Sie glaubte ihm das vom Gesicht ablesen zu können, während er sie mit stummen Blicken anzuflehen schien, diese Aufforderung zur Gewaltanwendung zurückzunehmen und ihm stattdessen eine Zuckerwatte zu kaufen. Verlegen trat er von einem Fuß auf den anderen. Wahrscheinlich war er Andreas Freund seit der siebten Klasse. Wie sollte die Zuneigung einer solchen Flasche eine junge Frau mit etwas anderem erfüllen als naiver Freude über das eigene Aussehen und der Ahnung, dass sich damit mehr anstellen ließ als einen wie Lars Benner vor Geilheit zum Schielen zu bringen?
Deine Freundin weiß genau, was sie tut, dachte sie, und sie wird sich eher eine Glatze rasieren, als zu dir zurückzukommen.
»Noch was?«, fragte sie.
»Sie woll’n also nich mal mit ihm reden?«
»Ich denke, das überlassen Sie mir.«
»Der muss das doch einseh’n.«
»Auf Wiedersehen.« Sie ließ Lars Benner stehen und kam sich vor wie angeschossen. Am liebsten hätte sie ihre Wut aus sich heraus- und über den ganzen Rummelplatz gebrüllt: Dann nimm ihn dir eben, du kleine Schlampe! Lass es dir ordentlich von ihm besorgen! Stattdessen ging sie lächelnd in Richtung ihres Sohnes. Linda hob die Hand und winkte, und als sie bei den beiden ankam, sagte Daniel fröhlich frech:
»Auf meiner Uhr ist es ja gerade erst sieben.«
Seine kleine Freundin biss sich auf die Unterlippe und nickte.
»Ab nach Hause«, sagte Kerstin. »Morgen ist auch noch ein Tag.« Was für ein lausiger Job, dachte sie. Generalsekretärin desRealitätsprinzips, die den Zauber eines Tages beendet, so wie man mit dem Finger in eine Seifenblase sticht.
»Ich muss bestimmt auch.« Linda hüpfte von der Leitplanke und verschwand Richtung Zelt, aber an Daniels Blick erkannte Kerstin, dass sie sich hinter ihrem Rücken noch einmal umgedreht hatte und ein Signal verschickte, das nickend verstanden wurde. Daniel sah in diesem Moment ein paar Jahre älter aus, als er war.
»Gehen wir?«, fragte sie.
»Gleich. Erst stagnieren wir noch ein bisschen.«
»Natürlich. Hattest du einen schönen Tag?«
»Durchaus.«
Durchaus. Aha. Das Frösteln hatte sie wieder verlassen, sie nahm sich die Strickjacke von den Schultern, hielt sie in der Hand und sah ihren Sohn an. Dessen Blick richtete sich auf einen unbestimmten Punkt in der Ferne.
»Wir könnten doch schon mal Richtung Brücke schlendern.« Mit dem Daumen zeigte sie hinter sich. Wie eine Erscheinung hatte er ihr dort gestern plötzlich gegenübergestanden, aber sein Verhalten deutete nicht darauf, dass er Zeuge des kurzen Rencontre auf der Brücke geworden sein könnte. Oder hatte er sich bereits daran gewöhnt, dass seine Eltern sich an Grenzgang eben außerehelich orientierten, und verfolgte nun seine eigenen amourösen Projekte? Da war etwas Undurchschaubares und Unkindliches an ihrem Sohn, sie wusste bloß nicht seit wann. Offenbar war sie schon geraume Zeit vor allem mit ihrer eigenen Befindlichkeit beschäftigt.
»Wir gehen da lang.« Ohne sie anzusehen, wies Daniel mit dem Arm auf die andere Brücke, weiter oben vor dem Krankenhaus. Lindas mutmaßlicher Heimweg.
»Das ist ein sogenannter Umweg«, gab sie zu bedenken.
Wortlos schüttelte er den Kopf, sah noch einmal auf den Punkt in der Ferne und nickte:
»Dann los.«
Langsam gingen sie die schmale Straße entlang, die zwischenFestwiese und Sportplatz zur Brücke führte. Im Zelt spielte Musik, die während des Refrains beinahe versank im tausendstimmigen Chor der Feiernden. Vermutlich sang ihr Mann auch mit, falls Lars Benner sich nicht doch noch ein Herz gefasst
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