Grenzgang
schämen Sie sich! Wie ist es bloß um Ihre Phantasie bestellt? Ich musste mich damit trösten, dass Ihr Namensgeber schließlich auch … nun, beenden Sie den Satz selbst. Sie scheinen sich Ihrer anderen Qualitäten jedenfalls sehr sicher zu sein).
Wo treffen wir uns also? Sie werden verstehen, dass ich das Aussehen, welches ich mir für Sie zu geben gedenke, nicht öffentlich zu Markte tragen kann. Folglich bestelle ich Sie in einen Club, wo derlei Auffälligkeiten nicht auffallen. Den Namen und die Adresse finden Sie in der zweiten Anlage. Auch eine Wegbeschreibung. Am Samstag den 24. um 21 Uhr, Monsieur. Wenn Ihr Foto eines verspricht, dann eine unwiderstehliche Neigung zur Pünktlichkeit.
Erschrecken Sie nicht angesichts der Abgeschiedenheit des Ortes und ziehen Sie sich an, wie Sie mögen.
V.
Ziemlich starker Tobak für einen Sonntagmorgen. Kopfschüttelnd trinkt Weidmann einen Schluck Kaffee, klickt noch einmal auf das Foto und nimmt sich vor, ihren Stil in seiner Antwort nun erst recht ›interessant‹ zu nennen. Wie auch sonst? Die Schnittmenge aus Ehrlichkeit und Höflichkeit ist selten groß, und wo sie gar nicht besteht, bleibt eben nur Ironie. Den Anhang mit der Wegbeschreibung ignoriert er, liest stattdessen die Mail noch einmal und ärgert sich über diese Anspielung auf seine ›anderen Qualitäten‹. So teigig und unscheinbar wie das Konterfei Baudelaires ist sein Gesicht auf dem Passfoto auch wieder nicht. Soll er überhaupt noch einmal zurückschreiben? Er ist nicht enttäuscht, er wird sich nur plötzlich des enormen Grabens bewusst, der ihn von der Frau auf seinem Bildschirm trennt, und fragt sich, was einen dazu bringt, in diesem Alter noch als Marlene Dietrichs verdorbene Cousine zu posieren. Davon abgesehen ist er wieder einmal zu früh wach geworden, in die Leere des arbeitsfreien Tages hinein und erinnert sich, in einem Roman gelesen zu haben, es seien die Sonntage, derentwegen Ehepaare zusammenbleiben, nachdem die Liebe längst das Weite gesucht hat. Die dünne Luft auf dem Hochplateau eines Nachmittags ohne Verpflichtungen. Und jetzt beginnt gerade erst der Vormittag, beginnt mit fließenden Schatten auf den zugezogenen Gardinen, Vogelgezwitscher und der Abwesenheit von Schritten im Treppenhaus. Stattdessen leise Klaviermusik aus dem Radio in der Küche.
Andererseits: Vorahnung und Erfahrung sagen ihm, dass die Gefahr einer Verfolgung mit weinerlichen E-Mails von Seiten der resoluten Madame Viktoria nicht besteht. Wer sich so offen verkleidet, verstellt sich nicht, und was von ihrem Gesicht überhaupt zu erkennen ist, der leichte Höcker ihres Nasenbeins, der schmallippige Mund, deutet auf einen zähen Stolz, der es ihr nicht erlauben wird, einem Mann hinterherzulaufen, der nach dem ersten Treffen zu erkennen gibt, an einem zweiten kein Interesse zu haben. Eher wird sie den Unwilligen zum Unwürdigen erklären und entschlossen seine Mailadresse löschen.Insofern droht immerhin kein lästiges Nachspiel, sollte der Abend kein Erfolg werden.
Die zweite Tasse Kaffee lässt er stehen, zieht feste Schuhe an und verlässt die Wohnung. Es ist immer der gleiche Kampf, und je öfter er ihn kämpft, desto stärker wird der Drang zur Bewegung, so als könnte das die Sache beschleunigen, oder vielleicht auch einfach, um seinen Kopf mit Sauerstoff zu versorgen, solange das Gerangel anhält. Die Langeweile, die er manchmal mit den Frauen empfindet, die er zum ersten Mal in einem Weinkeller oder zum zweiten Mal in einem Hotel trifft, nimmt er immer öfter vorweg durch die immer gleiche Diskussion der Frage, ob er sich an dem Spiel überhaupt noch beteiligen soll. Dies und das spricht dafür und dies und das dagegen, aber unter dem Strich bleibt die Tatsache, dass Bergenstadt nun einmal keine Möglichkeiten für den alleinstehenden Mann über vierzig bereithält, ein Sexualleben zu führen, das den Namen verdient. Und zu dauerhafter Enthaltsamkeit fühlt er sich nicht berufen.
Alles kann, nichts muss, aber etwas sollte …
Weidmann verlässt das Haus, überrascht von der Wärme der Luft zu dieser frühen Stunde, und wendet sich auf der Straße nach rechts, dem kurzen steilen Aufstieg über den Lerchenborn zu, der ihn erst zur Potsdamer Straße und dann die Treppen entlang zum Rehsteig führt. Hier wählt er sich ein Haus, dessen verschlossene Fensterläden auf Abwesenheit der Bewohner deuten, durchquert mit schnellen Schritten das Grundstück, steigt über den rückwärtigen Jägerzaun und
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