Grenzgang
erreicht so den schmalen Fußweg zur Rinnhecke, den kleinen Trampelpfad hinein in den Wald.
Ein dünner Schweißfilm steht ihm auf der Stirn. Unter ihm liegt der Ort im Sonnenlicht. Weißer Dunst steigt aus den Lahnwiesen, und in den Gärten am Rehsteig werfen Bäume und Sträucher lange Schatten auf die Rasenflächen. Eine Katze überquert die Fahrbahn, sorgt für zwitschernden Aufruhr in den Hecken. Manchmal hört er ein Geräusch aus offenen Küchenfenstern: Geschirrklappern, Kinderplappern, Familienleben. Erist zu schnell gelaufen und spürt seinen Herzschlag unangenehm in der Brust. Über ihm wird der Hang noch einmal steiler, hier enden die Grundstücke der Hornberger Straße mit betonverstärkten Mauern aus Naturstein, aufgetürmten fassgroßen Granitbrocken, die das Erdreich halten. Von unten sehen die Häuser gewaltig aus mit ihren ausladenden Giebeln und breiten Balkonen. Selbst die Garagen werden nicht von Flachdächern abgeschlossen, sondern besitzen Obergeschosse, groß genug für Kinderzimmer, holzverziert in Anlehnung an die Architektur des Voralpenraums. Kein Haus hat weniger als zwei Garagen, und eine gewisse Einheitlichkeit regiert die Bauweise: Die Konvention der Provinz, die Angst vor dem Urteil der Nachbarn.
Wie viel Mühe in all diesen Beeten, Zäunen, Rabatten und Hecken steckt. Was für ein unangefochtener Begriff von Zuhause dem zugrunde liegen muss! Am Ende der Straße, nahe beim Wendehammer, thront Preissens Neubau über dem Hang, mit einem Vorderbalkon in Terrassengröße. Auf dessen Geländer glaubt Weidmann eine einzelne leere Weinflasche zu erkennen wie den winzigen Fehler im Katalogbild, den kleinen Hinweis auf echtes Leben hinter den Kleinstadtkulissen. Eine vergessene Weinflasche, glänzend im Licht des frühen Sonntags.
Also? Er steht und schaut und fragt sich, was seine Optionen sind. Soll er zurückgehen und Kerstin Werner einladen zum gemeinsamen Spaziergang, unter dem Vorwand, es gebe da noch was zu besprechen in der Causa Daniel Bamberger? Vor sieben Jahren hat er eine Entscheidung getroffen – leichtfertig, wie er jetzt weiß, trotzig, voreilig und gleichgültig gegen die Folgen –, und seitdem ist er damit beschäftigt, sich einzurichten in seinem Dasein, so wie jemand, der mit zu vielen Möbeln in eine zu kleine Wohnung gezogen ist und nun alle zwei Wochen umräumt, um die regelmäßigen Anflüge von Platzangst zu bekämpfen. Wie viele Jahre ihn das gekostet hat. Dann, nach Konstanzes Hochzeit im letzten Jahr und der Geburt ihres Kindes, hat er geglaubt, die Hälfte des Ballastes sei von ihm genommen und er könne nun endlich beginnen, sich in der Kargheit seines Lebensheimisch zu fühlen, unbedrängt von sperrigen Erinnerungen. Noch vor wenigen Wochen hat er das geglaubt und Konstanze sogar geschrieben, aber die hat es ihm nicht abgenommen, und jetzt glaubt er selbst es auch nicht mehr. Saisonbedingte Entlassung einer weiteren Lebenslüge. Der Sommer ist heraufgezogen, die Bäume schlagen aus, und er flieht am Sonntagmorgen aus seiner Wohnung, folgt dem schmalen Pfad, der hinein in feucht-kühlen Schatten führt. Insekten tanzen in kleinen Säulen aus Sonnenlicht. Spinnweben glitzern in Astgabeln. Die Luft ist so frisch und schwer, dass er glaubt, sie sich mit beiden Händen ins Gesicht reiben zu können wie Wasser. Es riecht nach Baumrinde und frisch gesägtem Holz. Da ist etwas in ihm, was er nicht zu fassen bekommt, der Drang, zu rennen oder sein Gesicht in den blättrigen Waldboden zu drücken, seinen Schwanz aus der Hose zu nehmen und sich einfach einen runterzuholen. Mit Mitte vierzig ist man zu jung, um alt zu sein, aber zu alt, um sich jung zu fühlen, und es stimmt, verdammt noch mal, dass die kurzen Röcke im Klassenraum, die knappen Tops und T-Shirts seiner Schülerinnen ihm an manchen Tagen zu schaffen machen. Es gibt sie noch in ihm, die notorische Geilheit früher Sommertage, genauso reizvoll und unwillkommen wie die Geräusche eines vögelnden Paares in der Nachbarwohnung (sein Schicksal jeden Samstag und auch gestern wieder, denn Schneiders bringen zwar ihren Müll raus, wenn es ihnen gerade passt, aber alles andere geschieht nach Stundenplan). Ohne innezuhalten, hastet er den Pfad hinauf, sieht Wildschweinspuren in einer schattigen Senke und hat das Bedürfnis, reinen Tisch zu machen, alles rauszulassen, nichts zurückzuhalten.
Bloß wem könnte er erzählen von seiner nackten, hässlichen Angst vor der Verwandlung in das Klischee des alleinstehenden
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