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Grenzgang

Grenzgang

Titel: Grenzgang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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Studienrats? Vor der schrittweisen Transformation in eine geile Kröte, das Objekt von Schülerspott und besorgt getuschelten Bemerkungen unter Kollegen. So schnell kann er gar nicht gehen, dass er den Horror dieser Vorstellung nicht wie eine Lähmung in den Beinen spüren würde. Erst als er den Rundweg erreichthat, der auf halber Höhe um den Rehsteig führt, verlangsamt er den Schritt. Schweiß fließt ihm über den Rücken.
    Wer würde hören wollen, dass die Einsamkeit zwar auszuhalten ist, aber Panik in ihm aufsteigt angesichts der Frage, was die Einsamkeit mit ihm anstellt? In den letzten Jahren hat er an zu vielen Frauen seines Alters die Folgen dauernden Alleinseins beobachtet, all diese Ticks, Ängste und Zwänge, das zu schrille Lachen, die ins Taschentuch geschnäuzte Hysterie eines plötzlichen Weinkrampfs. Einsamkeit ist ein Gift mit Langzeitwirkung, nein, sie ist die Langzeitwirkung selbst, und irgendwann hat sie einen im Griff und lässt nicht mehr los.
    Konstanze?
    Ich mach mir Sorgen um dich, aber ich werde dich damit in Zukunft nicht mehr behelligen. Das war ihre Ankündigung nicht lange vor der Geburt ihres Kindes, und wie immer hat sie Wort gehalten. Die Geduld, mit der sie all die Jahre sein Leben begleitet hat, noch als sie selbst wieder liiert war, kommt ihm immer noch unwahrscheinlich vor, entweder übermenschlich oder auf Selbstbetrug beruhend, aber sie hat ihm keine Chance gegeben, das herauszufinden. Er tippt auf übermenschlich. Noch einmal mit ihm für ein Wochenende in den Schwarzwald zu fahren, als das Aufgebot schon bestellt war, jede Frage kategorisch abzuweisen, wie sie das ihrem künftigen Ehemann erklärt habe, mit ihm zu vögeln wie damals in Berlin und dann beim Abschied auf dem Parkplatz keine Träne zu vergießen. Ein regnerischer Tag mit tiefen Wolken. Er hat dort zwischen den Wagen gestanden und seinem Glück hinterhergewinkt, mit einem Kloß im Hals und gleichzeitig dankbar dafür, dass sie ihn noch ein letztes Mal in den Spiegel ihrer Augen hat sehen lassen. Was bin ich für ein Idiot, hat er gedacht.
    Es bleibt ihm also gar nichts anderes übrig, als diese Viktoria zu treffen. Sich ablenken, die kurze Spannung genießen und die lange Enttäuschung danach mit einem starken Getränk runterspülen. Schließlich ist er niemandem Rechenschaft schuldig und muss keine Rücksicht nehmen. Er ist bloß einbettflüchtiger Spaziergänger am Sonntagmorgen. Vor einer Woche hat er auf Kerstin Werners Terrasse gesessen und sich plötzlich gefragt: Wie lange ist es her, dass ich mich mit einer Frau unterhalten habe, ohne das Gespräch als Teil des Vorspiels zu betrachten? Jetzt sieht er durch die Bäume hindurch die verlassene Bundesstraße, die Abzweigung Richtung Sackpfeife und dahinter die steilen Hänge des Kleibergs. Denkt: Es würde niemals funktionieren.
    Sie hat eine gescheiterte Ehe hinter sich, eine pflegebedürftige Mutter im Haus und einen Sohn am Scheideweg zwischen Selbstständigkeit und Verkorkstheit. Im Gespräch strahlt sie eine hart erkämpfte und leicht ramponierte Würde aus, und ihm ist nichts Besseres eingefallen, als ihr mit dieser Frage nach der Halbwertszeit von Stolz zu kommen. Ein unverzeihlicher Ausrutscher und nur damit zu erklären, dass er längst aufgehört hatte, den Besuch bei ihr als Erfüllung einer beruflichen Verpflichtung zu betrachten. Wie auch nicht? Eine attraktive Frau, vor sieben Jahren schon und jetzt immer noch, und all das fällt ihm ein, weil entlang der Schwarzdornhecke am Wegrand Veilchen blühen und ihn an den verwelkten Strauß in ihrer Diele erinnern.
    Weidmann bleibt stehen und wischt sich über die Stirn.
    Eigentlich ist die Veilchenzeit vorbei, aber hier direkt vor ihm blühen sie, als wären sie seinetwegen aus dem Boden geschossen. Er bemüht sich, gar nichts zu denken, sondern nur zu zählen, während er in die Hocke geht und vorsichtig zu pflücken beginnt. Bei zehn steht er wieder auf. Die finale Antwort gibt es sowieso nicht, hat er früher seinen Studenten gesagt. Keine Formel, in die sich fassen ließe, was wir tun und warum. Es gibt nur die Suche und manchmal das Finden. Oft hat er das gesagt und würde in diesem Augenblick die Behauptung wagen, er habe Recht gehabt.

    * * *

    Der Lärm von der Festwiese klang zwischen den Häusern wider und fand hier und da ein dumpfes Echo im Gesang heimwärts ziehender Betrunkener. Fast kein Verkehr auf der Rheinstraße, nur Teile der Festdekoration lagen über Fahrbahn und Gehwege

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