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Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)

Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)

Titel: Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Schlögel
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alljährlich in den Zeiten der Herbst- oder Frühjahrswegelosigkeit im Morast und damit in der Unzugänglichkeit versinkt. Der hypertrophe Glaube an die neuen technischen Möglichkeiten der Raumbewältigung und Beschleunigung kompensiert Weite, Weglosigkeit, Stillstand, Rückständigkeit. Die revolutionäre Macht will sich dem Fluch der Weite des Landes nicht mehr beugen. Die exaltierten Bewegungs- und Beschleunigungsmetaphern belegen, worum es geht: die Überwindung von Trägheit und Langsamkeit, von Weite und Entfernung, die der Integration des Reiches entgegenstehen oder sie sogar bedrohen. Man könnte sagen: Die Schaffung der sowjetischen Staatlichkeit ist – ausgesprochen oder nicht – ein mit allen Mitteln geführter Kampf für die Produktion eines zusammenhängenden und zusammengehörigen Territoriums, in dem der Widerstand des weiten Raumes überwunden oder gebrochen ist. System, Staat, Struktur, Herrschaft, Plan – das sind nun die wichtigsten Koordinaten, und alle Anstrengung zielt darauf, diese durchzusetzen, zu stabilisieren, zu verteidigen. Aufbau des UdSSR als eines erneuerten Imperiums ist Homogenisierungsarbeit im großen Stil, Produktion eines großen einheitlichen Raumes, einer Zivilisation – sie hat immerhin über mehrere Generationen hin und gut 70 Jahre »funktioniert«.
    Die Vorstellung von der sowjetischen-stalinistischen Gesellschaft als einer wohlgeordneten und bis ins Letzte kontrollierbaren Gesellschaft ist eine Simplifikation, grob gesprochen: ein akademisches Ammenmärchen. Die Vergegenwärtigung der Sowjetunion in ihren räumlichen Dimensionen wäre ungemein hilfreich. Ein großes Land lässt sich nicht per Direktive aus einem Zentrum heraus beherrschen oder gar durchherrschen. Eine Macht, die nicht über technische Kommunikationsmittel und Infrastrukturen verfügt, ist eine sehr ohnmächtige Macht. Eine Stadt, mag sie noch so neu und binnen Fünfjahresplanfrist aus dem Boden gestampft sein, ist in dem weiten Land nur ein verschwindender Punkt, in vielem an eine koloniale Gründung oder auch einen belagerten Vorposten gegen ein weithin feindliches Umland erinnernd. Planbürokratien mögen im Zentrum groß sein, aber wenn Personal vor Ort nicht vorhanden ist und die Durchführung nicht kontrolliert werden kann, führen sie ein weithin imaginäres und fiktives Dasein. Das Land, das sich in ständiger Bewegung befindet – Moshe Lewin hat von »Flugsandgesellschaft« gesprochen, Lazar Kaganowitsch hat die Sowjetunion als ein einziges großes »Zigeunerlager« bezeichnet –, tut sich mit dem Sesshaft-Werden und mit der Ausbildung von Strukturen einer stabilen Gesellschaft schwer. Unmittelbare Gewalt – von Miliz, Geheimpolizei, Armee – und nomadisierende Gesellschaft, »Russia in Flux«, gehören zusammen. Die ganze Einschüchterungsrhetorik, das ganze stalinistische Imponiergehabe im öffentlichen Raum ist die Geste einer in Wahrheit ohnmächtigen Staatsmacht. So wie der Terror nie ein Zeichen für Machtvollkommenheit, sondern für Ohnmacht, für Kampf um Selbstbehauptung ist, so ist auch die gebaute Geste der verzweifelte Versuch, das Monopol über den Raum nicht aus der Hand zu geben. Um keinen Preis. Der Fetischismus, mit dem Ordnung und Plan umgeben waren, die Hypertrophierung von Plan und Autorität deuten gerade darauf hin, dass es in der Praxis um Plan, Ordnung, Autorität nicht sonderlich gut stand. Die Kehrseite des wohlgeordneten, vor allem öffentlichen Raumes ist das Chaos einer Gesellschaft, die aus den Fugen ist und ihrer eigenen Wege geht. Die Machtarchitektur ist zugleich Notstandsarchitektur, die Architektur einer Macht von schwacher Legitimität. Die Form der »belagerten Festung«, als die sich nicht zu Unrecht die UdSSR ja auch immer verstanden hatte.
    Wir stehen heute vor der Hinterlassenschaft der sowjetischen Zivilisation. Jetzt, da das Land auseinanderfällt, wird erst bewusst, wie homogen es in Sowjetzeiten war. Das Sowjetische war ein Markenzeichen, vor allem Homogenisierung des Raumes durch Zeichen, einen bestimmten Stil, einen spezifischen Geschmack, spezifische Ornamente. Das Sowjetische war weit mehr als nur »politisches System«, es war einmal Lebenswelt, way of life . Der Blick auf diese Landschaft hat einen eigenen Zauber: den Zauber des Imperiums, mit seinen Pavillons in den Kultur- und Erholungsparks von Minsk bis Taschkent, in denen die Blasorchester antreten, mit den Karussells, auf denen die Kinder ihre Runden drehen, mit den Klubs, in denen

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