Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)
alles Äußere ist lediglich Symbol des Inneren.« 11
So wird dann nach und nach der ganze Komplex der russischen Mentalität – Emotionalität, Mangel an Disziplin und Konsequenz im Kleinen, Selbstzweifel und Autoritätsfixiertheit, Arationalität, Glaubensfähigkeit, gegen die Tyrannei der Vernunft, Großzügigkeit, Maximalismus – wenn schon nicht aus der vorgefundenen Natur hergeleitet, so doch in ein Entsprechungsverhältnis gesetzt. Auch eine spezifisch russische Freiheitsvorstellung soll sich aus dem Raum herleiten, wie etwa bei Georgi Fedotow, der im ungebundenen Kosaken, Wanderer und Räuber den Protagonisten russischer anarchischer Freiheit, einer Freiheit von ( volja ), nicht einer Freiheit zu etwas ( svoboda ) erkennen will: »Der Räuber ist das Ideal der moskowitischen Freiheit ( volja ), so wie Iwan der Schreckliche das Ideal des Zaren ist. Da Freiheit ( volja ), ähnlich der Anarchie, im kultivierten Zusammenleben nicht möglich ist, findet das russische Freiheitsideal seinen Ausdruck im Kult der Wüste, der wilden Natur, des nomadischen Lebens, des Zigeunertums, der Ausschweifung, der Selbstvergessenheit der Leidenschaft – des Räubertums, des Aufruhrs, der Tyrannei.« 12
Diese Zitate mögen hier reichen. Sie zeigen, dass der Raum ein wesentliches Element der Selbstdeutung russischer Eigenart ist.
Die Bedeutung des Raumes
in der russischen Geschichtsschreibung
Auch die Begründer der modernen russischen Historiographie sahen einen Zusammenhang zwischen der Landesnatur, dem Kosmos russischen Lebens und der geschichtlichen Entwicklung. Ein Historiker wie Sergej Solowjow (1820–1879) etwa formulierte die These, dass es zur Bildung einer gesellschaftlichen Gegenkraft zur Autokratie deshalb nicht gekommen sei, weil sich alle Opposition gegen die Leibeigenschaft und Autokratie in eine Fluchtbewegung in die Weite des Raumes hinein habe auflösen können: »Die Weite des Landes, die Ungehemmtheit der Fortbewegung, der große Raum, all dies bewog die ohnehin spärliche und weit verstreute Bevölkerung zu noch mehr Zerfahrenheit ( razbrod ). Beim ersten besten Hindernis, das man mit vereinten Kräften hätte beseitigen können, wählte man jedoch, wegen der Schwierigkeit oder Unmöglichkeit des Zusammenschlusses, den Rückzug, ein einfaches Mittel bei der Schlichtheit der Lebensführung, die ihrerseits durch das Bewegtsein bedingt ist, durch die Gewohnheit des Weggehens zur Vermeidung jeden Hindernisses.« Auch für Solowjow stand fest, dass Steppe und Wald unterschiedliche Lebensformen nach sich zogen: »Die Steppe schuf die ständige Bedingung für dieses nomadische, ausschweifende Kosakenleben mit seinen primitiven Erscheinungsformen, während der Wald den Menschen mehr einschränkte und bestimmte, ihn festhielt, ihn erdverbunden und sesshaft werden ließ im Gegensatz zum Kosaken, der frei und stets unterwegs war. Von daher die ruhige, ausgeglichene und demzufolge, in ihren Ergebnissen, solidere Tätigkeit des nordrussischen Menschen, von daher auch die Unbeständigkeit des Südländers.« 13
Systematisch entfaltet wird der Zusammenhang in der »Russischen Geschichte« des großen Historikers Wassili Ossipowitsch Kljutschewski (1841–1911), der ein ausgeprägtes und reflektiertes Verständnis von Raumbeziehungen und geschichtlichen Prozessen hat. Alle Geschichte beginnt für ihn mit der Darlegung der Naturvoraussetzungen – »Beim Beginn des Studiums der Geschichte eines beliebigen Volkes begegnen wir einer Kraft, die gleichsam die Wiege eines jeden Volkes in ihren Händen hält – das ist die Naturbeschaffenheit seines Landes« 14 –, aber dieser Gedanke bleibt nicht aufs obligatorische Vorwort begrenzt, sondern wird dialektisch entfaltet. Kljutschewski ist für einen Historiker ein eminent sensibler Landschaftsbetrachter und Analytiker.
Aber es gibt bei ihm keinen Geodeterminismus. Dies wird namentlich deutlich an seiner Geschichte der Entwicklung der russischen Staatlichkeit, die eine Geschichte der Wanderung, der Kolonisierung und Territorialisierung des Raumes ist; es wird deutlich an der systematischen Bedeutung, die er Verkehr und Kommunikation, allen voran den Flusssystemen für das Entstehen einer historischen Landschaft und der Staatsbildung zumisst: schließlich an der Bedeutung des Klimas und der daraus sich ergebenden Fauna und Flora, der Bedeutung von Steppe und Wald für die Entstehung der russischen Kultur. Aus der Weite und Offenheit, auch Schutzlosigkeit der Räume leitet
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