Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)
es Tanzstunde gab oder auch, lange ist’s her, in den 1960er und 1970er Jahren die Barden ihre zornigen Lieder gesungen haben.
Russische Geschichte im 20. Jahrhundert lässt sich erzählen als die Geschichte der Eroberung und Behauptung von Macht über Russland, und das heißt den russischen Raum – und als das Scheitern seiner dauerhaften Transformation in einen sowjetischen Raum. Diese Geschichte des Scheiterns der Transformation des russischen in den sowjetischen Raum ist noch nicht geschrieben. Sie wäre eine Geschichte der Bewegung, der Orte, der Räume, der Grenzen, der symbolischen ebenso wie der reellen. Und Geschichtsarbeit wäre über weite Strecken eine Archäologie sowjetischer Räume und Orte.
Jetzt wird der postsowjetische Raum neu kodiert, neu geordnet, neu konfiguriert. Das Bild vom Archipel liegt im Widerstreit mit dem Bild, das noch immer an »ein Sechstel der Erde« erinnert. Das Land ist in eine große Drift eingetreten. Wenn man sich im Korridor Sankt Petersburg-Moskau bewegt, könnte man denken, dies ist nur die Verlängerung des metropolitan corridor, der von Westen, von London, Rotterdam, über Berlin und Warschau führt. Hier fahren Hochgeschwindigkeitszüge, hier sind die Leute im Internet unterwegs, planen Reisen nach Dubai und studieren Wechsel- und Börsenkurse. Außerhalb dieses Korridors herrscht eine andere Zeit. Moskau ist das Zentrum der Macht, die Spitze der Vertikale. Die Flughäfen sind voll von Menschen unterwegs in die weite Welt. Die Stadt ist nachts illuminiert wie Las Vegas. Und irgendwann werden die in der Krise unterbrochenen Bauarbeiten wieder aufgenommen werden in Moscow City, wo mit dem Tower of Russia der höchste Wolkenkratzer Europas errichtet werden soll. Das Territorium wird neu markiert: In Sankt Petersburg soll es der Gazprom-Turm sein und über der Bay von Wladiwostok eine Art Golden Gate Bridge in Fernost. Es ist schwer, fast unmöglich, die verschiedenen Zeiten, die unterschiedlichen Tempi auf einen Generalnenner zu bringen. Man muss aufhören damit und sich darauf einstellen, dass es nicht den einen russischen Raum gibt, sondern deren viele und dass fast in Sichtweite von Boomstädten Verfall, Depression, Niedergang, Regression ins 19. Jahrhundert stattfinden. Man muss sich im Land umsehen und sich aus dem Bannkreis Moskaus herausbegeben, um genauer zu sehen. Man muss den neuen Wegen und den neuen Wanderungen folgen, um herauszufinden, wohin das Land geht.
Der Zerfall des sowjetischen Raumes und die Infragestellung der damit verbundenen Identität waren der Ausgangspunkt des neuen Diskurses über den russischen Raum. Wie immer in solchen Debatten werden alte Fragen noch einmal, in neuem Licht gestellt, werden Antworten wiederholt, die schon einmal gegeben worden sind, und kommt es zu Dramatisierungen und neuen Mythologisierungen. Es ist nicht immer einfach, im Chor der Stimmen das Originelle vom Redundanten, das Frische vom Ressentiment und Reaktionären zu trennen. Die Hauptform der Ideologisierung des »russischen Raumes« ist meiner Meinung nach eine direkte Ableitung aller Gebrechen oder auch Errungenschaften der russischen Welt aus dem einen: dem russischen Raum, der in manchen Kreisen nicht als Territorium der Russländischen Föderation – Rossijskaja Federacija – verstanden wird, sondern als russischer, als ethnisch russischer – russkij – Raum. Ich möchte, zum Ende kommend, nicht mit einer Kurzformel schließen, sondern eher mit einer Beschreibung oder einer Erzählung vom russischen Raum. Ich kann zwar nicht bieten, was Globetrotter und Abenteuerreisende mit einem Lichtbildervortrag Ihnen bieten könnten, dafür aber vielleicht eine vorläufige Antwort darauf, wie man die Erfahrung des russischen Raumes produktiv verarbeiten könnte, ohne dass man Zuflucht nehmen muss zu historiosophischen Konstruktionen.
Der eurasische Raum nicht als Mythos, sondern als technisches Problem
Für die Dame am Schalter 5 der Deutschen Bahn im Erdgeschoss des Bahnhofs Berlin Zoologischer Garten ist die Bewältigung des russischen Raumes kein Problem. Als ich mich in diesem Sommer entschloss, den Zug von Berlin nach Shanghai zu nehmen, musste ich nur zum Bahnhof gehen. Nach 20 Minuten Warten war ich an der Reihe, trat an den Schalter und sagte der Dame, ich möchte eine Fahrkarte Berlin/Zoologischer Garten-Shanghai, einfach. Sie blickte nicht einmal auf, warf ihren Computer an und gab die gewünschte Route ein. Ja, es gibt – im Sommer wenigstens – einen
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